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Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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anzunehmen.«
    »Haben Sie vor irgend etwas Angst?«
    »Ich habe vor allem Angst. Ich stelle mir alles mögliche vor, da oben beim Weiher.«
    »Können Sie mir davon erzählen?«
    Sie schüttelte den Kopf und griff nach ihrer Tasse. »Nein, das kann ich nicht. Das sind alles nur Phantasien. Wenn ich sie ausspreche, werden sie vielleicht Wirklichkeit.«
    »S0lvi scheint gut zurechtzukommen?« fragte Sejer zur Ablenkung.
    »S0lvi ist stark«, sagte Frau Holland, plötzlich energisch.
    Stark, dachte Sejer. Ja, vielleicht war das das richtige Wort. Vielleicht war Annie die Schwächere gewesen. Alles schien sich auf beunruhigende Weise auf den Kopf zu stellen.
    Frau Holland ging Zucker und Sahne holen, als S0lvi das Zimmer betrat.
    »Wo ist Papa?«
    »Der kommt sofort.« Sehr entschieden kamen Ada Hollands Worte aus der Küche, vielleicht in der Hoffnung, daß Eddie es hörte und sich wieder faßte. Nicht nur Annie ist tot und verschwunden, dachte Sejer. Die Familie bricht auseinander, die Schweißnähte platzen auf, im Rumpf klaffen große Löcher, und das Wasser sprudelt herein, und nun stopft sie alte Phrasen und Befehle in die Ritzen, um das Schiff über Wasser zu halten.
    Frau Holland schenkte Kaffee ein. Sejers Finger paßten nicht durch den Henkel, er mußte die Tasse mit beiden Händen heben.
    »Sie reden die ganze Zeit von dem Grund«, sagte sie müde. »Als ob er einen guten Grund gehabt hätte!«
    »Keinen guten. Aber einen Grund hatte er natürlich. Der ihm in dieser Situation wichtiger als alles andere erschien.«
    »Sie scheinen sie also zu verstehen? Diese Menschen, die Sie wegen Mord und anderen Scheußlichkeiten einsperren?«
    »Sonst könnte ich diese Arbeit nicht machen.« Er trank seinen Kaffee und dachte an Halvor.
    »Aber es muß doch Ausnahmen geben?«
    »Selten.«
    Sie seufzte und blickte zu ihrer Tochter hinüber.
    »Was meinst du, S0lvi?« fragte sie ernst. Leise, in einem anderen Tonfall, als er das bisher bei ihr gehört hatte, als wolle sie dieses eine Mal in S0lvis leichten blonden Kopf vordringen und dort eine Antwort finden oder vielleicht eine unerwartete, aufklärende Frage. So als hoffe sie, die ihr verbliebene Tochter sei doch ein wenig anders und habe größere Ähnlichkeit mit Annie, als sie bisher angenommen hatte.
    »Ich?«
    S0lvi starrte ihre Mutter überrascht an. »Ich konnte jedenfalls Fritzner von gegenüber noch nie leiden. Ich habe gehört, daß er die ganze Nacht mitten im Zimmer in einem Segelboot sitzt und liest und daß er daran einen Flaschenhalter für Bier hat.«
    Skarre hatte im Büro fast sämtliche Lichter ausgeschaltet. Nur die Leselampe brannte, sechzig Watt in einem weißen Kreis über den Unterlagen. Der Drucker brummte gleichmäßig vor sich hin und spuckte eine mit tadelloser Schrift bedeckte Seite nach der anderen aus; es war seine Lieblingsschrift, Palatino. Im Hintergrund, gleichsam weit weg, wurde eine Tür geöffnet, und jemand betrat den Raum. Er wollte aufblicken und nachsehen, aber in diesem Moment fiel ein Bogen aus dem Drucker. Er bückte sich danach, erhob sich wieder, sah etwas in sein
    Blickfeld gleiten, über dem weißen Papier. Ein Bronzevogel auf einem Stäbchen. »Woher?« fragte er sofort.
    Sejer setzte sich. »Von Hollands. S0lvi beerbt ihre Schwester, und das hier lag bei ihren Sachen, eingepackt in Zeitungspapier. Ich war auch beim Grab. Paßt wie angegossen.« Er schaute Skarre an. »Jemand kann ihn ihr auch gegeben haben.«
    »Wer zum Beispiel?«
    »Ich weiß nicht. Aber wenn sie ihn selber geholt hat, wenn sie wirklich im Schutze der Dunkelheit zum Grab gegangen ist und ihn mit irgendeinem Werkzeug losgemacht hat, dann war das ganz schön rücksichtslos von ihr. Findest du nicht?«
    »Aber Annie war doch nicht rücksichtslos?«
    »Ich weiß nicht so recht. Ich weiß überhaupt nichts mehr sicher.«
    Skarre drehte die Schreibtischlampe so, daß sie einen perfekten Vollmond an die Wand warf. Den starrten die beiden an. Einer Eingebung folgend hob Skarre den Vogel, hielt ihn an der Stange fest und führte ihn in einer zitternden Bewegung vor die Lampe. Vor dem weißen Mond wirkte der Schatten wie der einer versoffenen Riesenente, die von einem Fest nach Hause schwankt.
    »Jensvoll hat als Trainer der Mädchen aufgehört.«
    »Wieso?«
    »Die Gerüchteküche hat gebrodelt. Die Vergewaltigungssache schwebt im Raum. Die Mädchen sind nicht mehr zum Training gekommen.«
    »Ich hab’s ja geahnt. Eins zieht das andere nach sich.«
    »Und

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