Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fremde Blicke

Fremde Blicke

Titel: Fremde Blicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
Vom Netzwerk:
Fritzner hat recht behalten. Es wird eine schwere Zeit für sehr viele. Bis der Schuldige zu Fall gebracht ist. Und ich hoffe, das wird sehr bald sein, denn jetzt ist der Zusammenhang doch klar, findest du nicht?«
    Sejer schüttelte den Kopf. »Irgendwas ist da zwischen Annie und Johnas. Irgend etwas ist zwischen den beiden passiert.«
    »Vielleicht wollte sie nur eine Erinnerung an Eskil?«
    »Dann hätte sie sich von seinen Eltern einen Teddy geben lassen können oder so.«
    »Ob er ihr vielleicht etwas angetan hat?«
    »Entweder ihr oder jemandem, zu dem sie eine Beziehung hatte. Jemandem, den sie geliebt hat.«
    »Das verstehe ich nicht - meinst du Halvor?«
    »Ich meine seinen Sohn, Eskil. Der gestorben ist, während Johnas sich im Badezimmer rasierte.«
    Skarre stieß einen Pfiff aus.
    »Es war sonst niemand dabei. Wir haben nur Johnas’ Behauptungen.«
    Sejer hob den Vogel wieder hoch und machte sich vorsichtig an dem scharfen Schnabel zu schaffen. »Also, was meinst du, Jacob? Was ist eigentlich am Morgen des siebten November passiert?«

WIE EINE FLUT brachen die Erinnerungen über ihn herein, als er die doppelte Glastür öffnete und einige Schritte durch das Foyer ging. Krankenhausgeruch, die Mischung aus Formalin und Seife, dazu der süße Geruch von Schokolade und der würzige Nelkenduft, der von den Kiosken herüberwehte.
    Statt an den Tod seiner Frau zu denken, versuchte er, sich auf seine Tochter Ingrid zu konzentrieren, auf den Tag ihrer Geburt. Denn dieses gewaltige Gebäude hatte den tiefsten Kummer und die größte Freude seines Lebens gesehen. Er war beide Male durch dieselbe Tür gegangen und hatte dieselben Gerüche wahrgenommen. Unwillkürlich hatte er seine neugeborene Tochter mit den anderen Säuglingen verglichen. Die anderen waren ihm röter und fetter und runzliger vorgekommen, und außerdem hatten sie struppigere Haare gehabt. Oder sie waren zu früh geboren und wachsgelb. Oder sie sahen aus wie winzige unterernährte Greise. Nur Ingrid war perfekt. Diese Erinnerungen lösten ein wenig seine Verspannungen.
    Sejer kam durchaus nicht unangemeldet. Er hatte genau acht
    Minuten am Telefon gebraucht, um den Pathologen ausfindig zu machen, der damals Eskil Johnas obduziert hatte. Er hatte sofort gesagt, worum es ging, damit alle Unterlagen auf dem Tisch lagen, wenn er das Krankenhaus betrat. Eins der Dinge, die ihm an der Bürokratie gefielen, an diesem schwerfälligen, zähen, umständlichen System, das alle Behörden regierte, war die Regel, daß alles aufgezeichnet und archiviert werden mußte. Daten, Uhrzeit, Namen, Diagnosen, Routinen, Unregelmäßigkeiten, alles gehörte dazu. Alles ließ sich heraussuchen und noch einmal durchgehen, von anderen Menschen mit anderen Motiven und unverstelltem Blick.
    Dachte er, als er den Fahrstuhl verließ. Der Krankenhausgeruch verstärkte sich, als er durch den Flur des siebten Stocks ging. Der Pathologe, der sich am Telefon älter angehört hatte, entpuppte sich als junger Mann. Als rundlicher Bursche mit dicken Brillengläsern und weichen Patschhänden. Auf dem Schreibtisch hatte er eine Kartothek, ein Telefon, einen Stapel Papiere und ein großes rotes Buch mit chinesischen Schriftzeichen.
    »Ich muß zugeben, daß ich die Krankenberichte in aller Eile überflogen habe«, sagte der Arzt, die Brille ließ ihn aussehen, als sei er pausenlos erschrocken. »Ich bin wirklich neugierig. Sie sind doch Kriminalkommisar, nicht wahr?«
    Sejer nickte.
    »Also gehe ich davon aus, daß dieser Todesfall etwas Besonderes ist.«
    »Das kann ich noch nicht sagen.«
    »Aber deshalb sind Sie gekommen?«
    Sejer sah ihn an und kniff die Augen zusammen, eine andere Antwort gab es nicht. Weil Sejer stumm blieb, redete der Arzt weiter, ein Phänomen, über das Sejer sich immer wieder von neuem wunderte und das ihm im Laufe der Jahre manches Geständnis eingebracht hatte.
    »Tragische Geschichte«, murmelte der Pathologe und betrachtete die Unterlagen. »Zwei Jahre alter Junge, Unfall zu Hause. Einige Minuten unbeaufsichtigt. Tod bei Eintreffen. Wir haben ihn aufgemacht und in der Luftröhre eine totale Obstruktion in Form von Lebensmitteln gefunden.«
    »Was für Lebensmittel?«
    »Waffeln. Wir konnten sie auseinanderfalten, sie waren fast unversehrt. Zwei ganze Waffelherzen, zu einem Klumpem zusammengedrückt. Das ist ganz schön viel Essen für einen so kleinen Mund, auch wenn er ein recht kräftiger Bursche war. Im nachhinein hat sich herausgestellt, daß er ein recht

Weitere Kostenlose Bücher