Fremde Federn
»Gin! Gin!« ins Ohr quäkte. So bewegte Melrose den Vogel in Gedanken durch Long Piddleton, bis er bemerkte, daß ein Mädchen durchs Schaufenster lugte. Die hatte er gestern doch schon einmal kurz gesehen. Sie war plump, hatte grobe Gesichtszüge und betrachtete nicht einfach die Schaufensterauslagen, sondern starrte in den hinteren Teil des Ladens, als suche sie jemanden.
Er beobachtete sie nun seinerseits. Sie war dreizehn oder vierzehn, jedenfalls ein paar Jahre älter als Jip, und hatte etwas unangenehm Aggressives. Da kam plötzlich eine Stimme aus der Finsternis und fragte ihn, was er wünsche.
Das mußte die Tante sein, dachte er, als er in der dunklen Ecke den noch dunkleren Schatten gewahrte. Eine wie eine Mumie in ein schwarzes Gewand gewickelte Frau saß da und rauchte eine Zigarette; auf dem Kopf trug sie einen schwarzen Turban. Beim Näherkommen bemerkte er die einzige andere Farbe ihres Ensembles: den blutroten Nagellack. Der großzügig draufgeklatschte Lippenstift war bräunlichrot. Sie hatte einen riesigen Schal mehrfach um die Schultern geschlungen und sich die Oberarme damit an den Körper gepreßt. Unter dem schwarzen Turban war ihr Gesicht so blaß wie Mondstein. Eine wahrhaft freudlose Gefährtin für ein kleines Mädchen. Was er wünschte, fragte sie ihn wieder, als habe er sie in der Kaffeepause gestört.
»Ach, ich suche ein paar alte Klamotten«, murmelte er und bewegte sich durch die Kleiderständer, in die sich Jip so gern gekuschelt hatte.
»Wie zum Beispiel?« fragte sie.
Melrose seufzte und nahm ein capeähnliches Teil zur Hand. Er haßte es, einkaufen zu gehen, und ließ sich seine Kleidung immer schneidern, weil er der nervtötenden Fragerei der Verkäufer entgehen wollte. Wenn man auf die erste Frage antwortete und ihnen damit einen Einstieg bot, hörten sie gar nicht mehr auf.
Er nahm einen Chapeau claque zur Hand. Leeres Gerede verabscheute er. Darum fanden andere Menschen ihn wahrscheinlich so unerträglich, dachte er und schlang sich das seidengefütterte Cape um die Schultern, aber es scherte ihn einen feuchten Kehricht, ob man ihn für unerträglich hielt. Besser das, als sich auf verbale Verbeugungen und Kratzfüße einzulassen, um die Götter des sinnlosen gesellschaftlichen Verkehrs gnädig zu stimmen. Er betrachtete sich in dem großen Wandspiegel und rückte den Zylinder schräg. Richtig schurkisch sah er aus. Dann streifte er weiße Fingerhandschuhe über, zog einen Ebenholzstock aus der chinesischen Vase, die mit zerschlissenen Sonnenschirmen vollgestopft war, und ließ ihn herumtrillern. Nun sah er aus wie eine Kreuzung zwischen Fred Astaire und Graf Dracula. Da mußte er wieder an Vivian denken und ihre Reise nach Venedig. Er stöhnte und legte Zylinder und Cape ab.
»Das sah aber sehr elegant aus«, sagte Die Schwarze Tante aus den Schatten.
Er nahm eine schwarze Jacke mit glänzendem Revers vom Kleiderbügel. Was hatte Jury über Vivian gefaselt? Er wurstelte sich in die Jacke und schlang sich einen mottenzerfressenen Schal um den Hals. Ob das paßte? Seine Gedanken wanderten Jahre zurück zu Vivians Verlobten Si-mon Matchett, dem damaligen Pächter des Man With a Load of Mischief (den Pub hätte er kaufen sollen, um zu verhindern, daß er in fremde Hände geriet - Pech gehabt). Herr im Himmel, hatte die Frau denn keinen Funken Verstand? Mit einer schwarzen Melone auf dem Haupt und der schwarzen Jacke, die an den Ärmeln viel zu kurz war, sah er aus wie Charlie Chaplin.
»Das steht Ihnen nicht, finde ich.«
Ach, Klappe, dachte er, zog die Jacke aus und nahm etwas anderes von der Stange. Natürlich war allen sonnenklar, daß Vivian Franco Giopinno nicht heiraten wollte und nur nicht wußte, wie sie sich anständig aus der Affäre ziehen sollte - auf einmal mußte er wieder an das Notizbuch denken. Wo war es? Sicher hatte Trueblood es aus dem Putzeimer gerettet. Er schlug sich mit einer Reitgerte ans Bein, die er ganz in Gedanken ergriffen hatte.
»Jagen Sie? Hier in der Gegend werden häufig Treibjagden veranstaltet.«
Im Spiegel sah er, daß er sich in eine rosafarbene Jacke gequält hatte, ohne es überhaupt zu bemerken. Er pellte sich wieder heraus und nahm einen bodenlangen braunen Mantel von der Stange, während seine Gedanken zu Polly Praed in Littlebourne wanderten. Er hatte Polly seit Jahren nicht gesehen; Polly mit den amethystfarbenen Augen. Und der spitzen Zunge, ermahnte er sich. Einerlei, Polly war immer in Richard Jury verliebt gewesen.
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