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Fremde Federn

Fremde Federn

Titel: Fremde Federn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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kostete. Und ein Zimmer eineinhalb Dollar.
    Melrose holte ein paar Münzen aus der Tasche. Er betrachtete die Quarters, Dimes und Nickels. Stelle sich das einer vor! Dafür hatte man sich weiland im St. James Hotel einquartieren können. Und eine komplette Mahlzeit mit Wein bekommen.
    Er nahm das Stereoskop und wischte es ebenso wie die staubigen braunen Bilder mit dem Taschentuch ab. Dann steckte er eines vor die schaufelähnliche Linse. Ein Bahnhof, der alte Bahnhof »Baltimore and Ohio« erstand plötzlich vor ihm. Eine kleine Gruppe von vier - nein, fünf -Menschen war entweder gerade aus einem Zug gestiegen oder im Begriff einzusteigen.
    Er schob ein neues Bild in den Apparat und sah eine zweirädrige Droschke mit mehreren Leuten - vielleicht sogar denselben - über die gepflasterte Straße fahren, der Bahnhof war jetzt weit entfernt.
    Als nächstes der Anblick einer geräumigen Eingangshalle mit Palmen in Kübeln und Säulen und wieder ein paar Menschen. Das konnten sehr gut Gäste des St. James sein, dachte er; vielleicht kamen sie, angenehm satt, von ihrem Ein-Dollar-Menü.
    Waren die alten Bilder so hintereinandergelegt worden, daß sie eine Geschichte erzählten? Oder lief die Geschichte zufällig so ab, in der Reihenfolge, die er den Bildern gegeben hatte? Das ist ein wichtiger Unterschied, dachte er, wenn er auch nicht wußte, warum.
    Wie gern hätte er sich der kleinen Gruppe angeschlossen, seine Tasche genommen, die Droschke bestiegen und das ruckelnde Rollen der Räder gespürt. Dann würde er aus der Droschke in das warme Licht der Sonne steigen, das sich auf den Bürgersteig vor dem St. James Hotel ergoß. Alle sechs würden sie durch die kühle Lobby zur Rezeption gehen, wo Mr. Adams sie freundlich begrüßen und jedem ein Büchlein zum Andenken an das Hotel schenken würde.
    Dann hinunter zum Speisesaal. Die Hälfte der Tische besetzt und alle mit weißen Tischtüchern, als Vorspeise eine Bouillon, dann einen Braten. Er genoß das Gespräch mit seinen neuen Gefährten, obwohl er nicht hören konnte, was sie miteinander redeten. In der Stille blähten sich Vorhänge, bewegten sich Lippen, flitzten Kellnerinnen umher - Abrupt erwachte er aus seiner Tagträumerei. Er hielt zwar das Stereoskop noch in der Hand, hatte aber das letzte Bild nicht durch ein neues ersetzt, so daß er durch den Halter auf das Gesicht eines Mädchens blickte, das plötzlich ähnlich aufgetaucht war wie der Bahnhof, das Pferd, die Droschke und die Menschen. Ihr Gesicht war in dem Gittermuster aus Licht und Schatten gefangen, das von einem hellen Wandleuchter erzeugt wurde.
    »Oh, guten Tag«, sagte er zu ihr, peinlich berührt, daß sie ihn beim Träumen ertappt hatte.
    »Ich hab sie so hingelegt«, sagte sie.
    Wovon redete sie? Ach, die Bilder. Damit war die Frage beantwortet; die Reihenfolge war nicht willkürlich.
    Sie stand neben ihm und nahm die Bilder. »Die aus dem Zug gestiegen sind, sehen aus wie die in dem Hotel. Eine trägt denselben Hut.« Das Mädchen schob ein Bild in den Halter und hielt es Melrose zur Begutachtung hin.
    Melrose runzelte die Stirn. Sollte er nun die Phantasien des Mädchens bestätigen? Stöhnend tat er ihr den Gefallen und schaute durch das Stereoskop. »Na ja, aber woher weißt du, daß sie ausgestiegen sind? Vielleicht warten sie auf einen Zug.« Du liebe Güte, warum fing er an herumzuargumentieren?
    »Weil«, erklärte sie geduldig, »ihre Koffer schon auf dem Karren sind.«
    Ärgerlich, weil er dieses Detail übersehen hatte, schaute er noch einmal in die idyllische Vergangenheit, weigerte sich aber, ihr zu sagen, daß sie recht habe. Sie war ohnehin unter einundzwanzig, gehörte somit in die Kategorie Kind, eine Altersgruppe, aus der man erst dann Informationen bekam, wenn zuvor Gummibärchen den Besitzer gewechselt hatten. Widerstrebend ließ er von dem Stereoskop und damit der Vergangenheit ab, um sich der Gegenwart zuzuwenden und sich um seine Informationen zu bemühen. Da niemand anderes da war, mußte er sich eben mit diesem Kind begnügen.
    Man hatte sie offenbar gebeten, im Laden zu bedienen, denn sie fragte ihn, ob er etwas Bestimmtes suche.
    »Ja - Bücher«, sagte er. »Erstausgaben.«
    Sie ging zu einem Bücherregal und blieb davor stehen. »Hier sind ein paar alte.« Sie hatte ein verhärmtes, kummervolles Gesicht, was angesichts solch grimmiger Mahner an die ewige Verdammnis und beinahe ebenso unattraktiver Himmelskandidaten in ihrer unmittelbaren Umgebung nicht verwunderlich

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