Fremde Federn
Sweetie zog den dicken Packen Papier aus dem Umschlag, sah die vertraute Handschrift und spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. Sie las:
»Lily, du mußt vorsichtig sein.«
Vormittag, aber Sweetie ging hoch in ihr Schlafzimmer und blieb dort liegen, während der Morgen zum Abend wurde und der Abend zur Nacht und die Nacht wieder zum Morgen. Die ganze Zeit lag sie da und betrachtete die Decke. Sweetie hatte Mond und Sterne über sich gemalt. Über ihr trieb die Zimmerdecke mit silbernen Sternen und gespenstischem Mond.
»Und jetzt«, sagte Ellen, »hören Sie sich das an.« Sie nahm das andere Buch und öffnete es auf einer Seite, die sie mit einer Büroklammer gekennzeichnet hatte.
Lovey öffnete die Tür und schaute die Straße hinauf und hinunter, um zu sehen, wer geklingelt hatte. Die Hitze schien sie wie eine warme Hand zurückzudrängen, sie erblühte auf ihrem Gesicht. Sie sah niemanden. Sie ging auf die Veranda hinaus und stolperte beinahe über die Holzbank, als sie das Päckchen sah. Es war das fünfte, das an ihre eigene fiktive Figur adressiert war, an Baby. Lovey hatte Angst, es anzufassen.
Ellen knallte das Buch auf den Tisch, daß die Gläser wackelten, was diverse Leute an angrenzenden Tischen veranlaßte, herüberzuschauen. »Sie versucht, Sweetie in Lovey zu verwandeln, und Lily in Baby. Mein Gott! >Ihre eigene fiktive Figur, Baby< - sie hat doch keinen blassen Schimmer, was in Fenster passiert!«
»Das ist ja schrecklich, Ellen.« Melrose war wirklich erbost. »Und das ist veröffentlicht worden? Wie kann sich jemand einen so dreisten literarischen Diebstahl erlauben?«
»Das passiert doch dauernd. Wenn es nicht wortwörtlich geklaut ist, kann man es so gut wie nie beweisen.«
Melrose schaute sich das Titelbild noch einmal an. »Vittoria Della Salvina - ist sie Italienerin?«
»Aus Queens. In Wirklichkeit heißt sie Vicki Salva. Gott! Sie war ein absolutes Nichts.« Ellen griff sich ins Haar und riß es beinahe aus. »Eine komplette Null. Das hätte ich wissen müssen.«
Jury blätterte die Seiten durch. Hatte wahrscheinlich das ganze Ding intus und sich ein Urteil gebildet, noch ehe Wiggins zurückkam. Melrose seufzte. Warum hatte er nicht aufmerksamer gelesen? Von nun an würde er alles brav studieren, jawohl!
»Und Sie kennen diese Frau?« fragte Jury.
Ellen nickte. »O ja. O ja. Vor zwei Jahren habe ich an der New School unterrichtet, Sie wissen schon, in Manhattan. Es war ein Schreibseminar, gleich nachdem Fenster veröffentlicht worden war. Diese Vicki Salva saß immer in der ersten Reihe und leckte mir förmlich die Füße, Sie würden es nicht glauben. Vor und nach dem Seminar hing sie immer rum und redete in einer Tour über Fenster und wie wunderbar es sei. Redete und redete über meinen Stil, über Sweetie, über das Thema. Und sie hatte es gelesen, ganz offensichtlich; sie hat also das gehabt, was im Gesetz als >Zugang< bezeichnet wird. Das ist ja immer am schwierigsten zu beweisen. Aber selbst mit einem solchen Beweis kann ich ihr nicht an den Karren fahren. Ich bin bei zwei Anwälten gewesen. Sie ahnen ja nicht, wie schwierig es ist, so etwas zu beweisen.«
»Aber, Herr im Himmel«, sagte Melrose, »es ist doch so verdammt offensichtlich. Sie gewinnen diesen angesehenen Preis, und diese - Frau ... Zum Kuckuck, man darf gar nicht darüber nachdenken.« Dann fügte er hinzu: »Poe ist wenigstens tot. Er muß keine Vampire mehr erdulden, die ihn plagiieren.«
»Nicht nur das, sie schreibt entsetzlich«, sagte Jury. »>Die Hitze erblühte Im Grunde geht es doch darum, daß sie so mies schreibt und Sie so gut - und deshalb merken es die Leute nicht.«
»Es stinkt. Das ganze Ding stinkt zum Himmel.« Ellen legte den Kopf auf den ausgestreckten Arm.
Aha! dachte Melrose. Deshalb hat sie mich angerufen und gebeten, in die Staaten zu kommen. »Nehmen Sie es nicht so tragisch. Niemand wird diesem Quatsch auch nur die geringste Beachtung schenken. Nur weil Ihr Buch so gut ist, ist ihres überhaupt veröffentlicht worden. Das verläuft alles im Sande.«
»Gar nicht wahr. Sie wird es wieder tun. Ich schreibe eine Trilogie über Sweetie.« Sie zeigte auf das Manuskript von Türen.
»Aber sie würde es doch sicher nicht noch einmal wagen, Miss«, sagte Wiggins und kippte die Hälfte seines Drinks.
»Warum nicht? Einmal hat sie es doch schon getan, oder?«
Melrose schaute Jury an. »Was wollen Sie in der Sache unternehmen?«
Jury lächelte. »Ich fürchte, ein Fall für die
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