Fremde Federn
Poe .
Sie war im Nu zurück, die Haube trug sie immer noch, und wühlte weiter in einer der vielen Truhen, die im Laden herumstanden. Über dem offenen Deckel hingen verschiedene weiße - das heißt einstmals weiße - Gewänder aus Leinen und Spitze. Sie holte eine Bluse heraus und probierte sie über ihrem T-Shirt an.
Warum in aller Welt, fragte er sich, ging er so behutsam zu Werke? Sie hatte ja keinerlei Veranlassung, mißtrauisch zu sein. Während sie eine grüne Jacke überzog, sagte er zu ihr: »Mir hat jemand erzählt, daß in einer Truhe hier ein sehr wichtiges Manuskript gefunden worden ist.«
Sie wurde mucksmäuschenstill, drehte sich von ihm weg und knöpfte die grüne Jacke zu.
»Sehr wertvoll«, fügte er hinzu. Er beobachtete sie im Spiegel. Ihr Gesicht war weiß und ausdruckslos. Das Gespräch hatte eine Wendung genommen, zu der sie betont gleichgültig die Achseln zuckte.
Die Gleichgültigkeit nahm er ihr nicht ab. »Hast du die Truhe zufällig gesehen?«
»Ja.« Schweigen. Dann sagte sie: »Sie ist tot.«
Der Kessel pfiff. Melrose zuckte zusammen.
»Ich hole den Tee«, rief sie und rannte weg.
Der Ära hatte beim Pfeifen des Kessels angefangen, aufgeregt herumzuflattern, wobei das Tuch vom Käfig rutschte. Als er sah, daß nur noch Melrose übrig war, der ihn hätte unterhalten können, döste er auf seiner Stange ein. Auf einem Blumenständer neben dem Käfig befand sich ein Teller mit kleinen weißen Keksen. Melrose schnappte sich einen und steckte ihn durch die offene Käfigtür. Der Vogel ignorierte beides, den Keks und das Tor zur Freiheit. Wenn außerhalb des Käfigs niemand anderes stand als Melrose Plant, blieb er lieber bei seiner Stange.
»Dann eben nicht«, sagte Melrose und wandte sich an den Kater, der erzitterte, einen Buckel machte und herzhaft gähnte. Er schnupperte an dem Keks und rollte sich wieder auf den Kissen zusammen.
Das Mädchen kam mit einem Tablett zurück, auf dem sie zwei Becher, Teekanne, Zuckerdose, Milchkrug sowie einen Teller mit Zitronenscheiben, Kuchen und einen Stoß Kekse balancierte. Bei letzteren handelte es sich um kugelrunde Köstlichkeiten mit einem dicken Guß aus Zucker und Kokosraspeln beziehungsweise Schokoladenkekse mit Cremefüllung.
»Wie heißt du?« begann Melrose im Plauderton.
»Jip«, antwortete sie lustlos, als hätte sie ihm lieber gar nicht geantwortet. Allgemeines Schweigen, während sie ihm Zucker anbot und er sich nahm. Zitrone wollte er nicht, statt dessen goß er sich ein wenig Milch ein.
»Hm. Ich heiße Melrose. Nett, dich kennenzulernen.« Mißmutig, fand er, trank sie ihren Tee und beobachtete ihn mit ihren goldbraunen Augen über den Becherrand hinweg. »Jip. Das ist ein interessanter Name. Wofür ist es ein Spitzname?« Es mußte ja wohl einer sein.
»Für nichts. Einfach nur Jip.«
Jetzt schaute sie ihn mit tiefem Ernst an, als wisse sie auch, daß es nicht wie ein Name klang, den man gemeinhin auf Geburtsurkunden findet. Wußte sie ihren richtigen Namen womöglich gar nicht? Ihr Gesicht unter den lächerlich weiten Flügeln der Haube war traurig. Sie zerrte sich den Hut vom Kopf. Die Zeit der Spielchen war vorbei. Irgend etwas jedenfalls war vorbei.
»Vielleicht ist es ein Patronym«, sagte Melrose und nahm in einem sehr niedrigen alten Sessel Platz, durch dessen Polsterung sich die Sprungfedern drückten.
Sie war dabei gewesen, die Füllung von einem Schokoladenkeks abzulecken, hielt aber inne und zog die Stirn kraus. »Ein was?«
»Ach, du weißt schon«, sagte er aufgekratzt, »so was Russisches. In russischen Romanen findet man die. Patro-nyme. Die Russen haben doch so eine liebevolle Art, wie sie sich gegenseitig nennen. Ich habe eines. Ein Patronym, meine ich.« Oh, was erzählte er da? Außer Melrose hatte er keinen Namen. Seine Eltern hatten ihm nicht einmal einen zweiten Namen gegeben. Aus unerfindlichen Gründen ärgerte ihn das. Warum hatten sie ihn nicht Melrose Fjodo-rowitsch genannt? Ein zweiter Name - mehrere Namen -wäre ihm in dieser Situation sehr zupaß gekommen.
»Und was für einen?«
»Melrowitsch.« Er räusperte sich. »Schau mal, im Prinzip ist es so wie Petrowitsch für Peter; oder sagen wir Anna Petrovna.« Er lächelte und widmete sich dem Keksteller. »Und dann gibt’s noch die Diminutive. In meinem Fall Melja. Was sind das für welche?«
Eine Sekunde lang schien sie ihm gar nicht zuzuhören. Sie hielt die zwei Hälften ihres Kekses hoch, ein Stück in jeder Hand, und starrte ihn
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