Fremde Federn
er den Trot erfunden hatte. »Abwarten.«
»Ich muß ja auf alles und jeden warten.«
Er mußte zugeben, seine Geschichte war detailüberladen. Aber ging es nicht genau darum? Er zog die Brauen hoch. Er war sich nicht sicher. Ellens Geschichte enthielt praktisch überhaupt keine Details außer ein paar Möbel-stücken und dieser Sweetie, die darauf wartete, daß ein Brief durch die Tür geworfen wurde. In Gedanken versunken, ließ er die alten Spitzen-, Satin- und Tüllkleider durch die Hände gleiten, die schwer von Perlenstickereien und winzigen eiszapfenähnlichen Glastropfen waren, und fragte sich, ob seine Geschichte auch zu schwer war von den vielen Verzierungen.
»Es war aber unmöglich, die schreckliche Madame Vronsky auf dem Ball zu erkennen.«
Sie riß die Augen auf. »Auf was für einem Ball?«
»Dem Maskenball.«
»Sie haben noch gar nicht gesagt, daß es einen Maskenball gab.«
In seiner Phantasie hatte der Schlitten vor einem riesigen Landsitz gehalten, aus dem Musik erklang. Balalaikas. Kristallklar. »Tut mir leid. Na ja, der hatte schon angefangen, als unser Schlitten vor dem Haus hielt. Einem großen Haus.«
»Sind Sie mittlerweile in Georgien?« Sie schien ihm zu verzeihen, daß er sie mit diesem Ball überrascht hatte. Dafür hatte er ihr ja auch eben den Trot präsentiert.
»Nein. Wir waren in der Nähe der Steppe.«
»Und das Haus steht in der Steppe?«
»Nein, nein. Aber du kennst doch die russischen Steppen.« Natürlich kannte sie die nicht. Er auch nicht. Die waren doch sowieso in Sibirien, oder?
»Das Haus war sehr vornehm. Es hatte Stallungen und sogar eine eigene Kapelle. Julie verließ unbemerkt den Ball, sie wollte Rudolf nicht begegnen - er war einer der Söhne dieser reichen Familie, und sie kam zu der Zeit überhaupt nicht mit ihm klar. Er war ein Graf, und sie war mit ihm verlobt. Aber sie wollte ihn nicht heiraten. Egal, sie erzählte mir, sie sei ihm weggelaufen und müßte jemanden draußen an der Kapelle treffen. Ich stand auf der Terrasse und beobachtete, wie sie in ihrem weißen Cape über den schmalen Pfad lief und hinter der Kapelle verschwand.« Melrose hörte die unzähligen Standuhren schlagen. Es war elf Uhr! Er war schon länger als eine Stunde hier. »Und da hörte ich den Schuß.«
Jip schreckte hoch. »Was für einen Schuß? Was war passiert?«
»Rudolf war ihr gefolgt. Er schoß auf Julie.«
»Nein!« Voller Verzweiflung kippte sie den Teller mit den Oreos um. Mit bitter enttäuschter Stimme sagte sie: »Das ist ungerecht.«
»Das Leben«, sagte Melrose salbungsvoll, »ist nicht gerecht. Nur in Büchern.« Aber ihr Gesicht war so bleich geworden und die bernsteinfarbenen Augen so traurig, daß er schnell hinzufügte: »Du lieber Himmel, sie ist ja nicht gestorben.«
Jip wandte den Kopf ab, und die Farben des Tiffany-Lampenschirms ergossen sich über ihr Haar. Sie setzte den Hut wieder auf, als wolle sie ihr Gesicht unter ihm verbergen. Dann senkte sie den Kopf und strich den Rock mit den Händen glatt. Als sie sprach, klang ihre Stimme sehr angespannt. »Ich dachte, es wäre so ähnlich wie mit dem Mädchen auf dem Friedhof.«
Die Stimmung war plötzlich umgeschlagen. Vielleicht erschreckten sie die unsichtbaren Gefahren, derer man auf Schritt und Tritt gewärtig sein mußte. »Das Mädchen auf dem Friedhof.« Er setzte sich wieder hin und fragte, ob er noch eine Tasse Tee haben könne. »Soviel ich weiß, besucht jemand jedes Jahr das Grab Edgar Allan Poes. Und bringt Kognak oder Sekt und Blumen mit.«
Sie nickte. Der große Hut wirkte zu schwer für ihren Kopf. »Meine Tante meint, er ist verrückt. Ich nicht. Ich finde es sehr nett, jemanden an seinem Grab zu besuchen und Sekt zu trinken. Es bedeutet, daß man nicht vergessen ist.« Tonfall und Blick deuteten an, daß genau das ihr selbst einmal passiert war.
»Ganz bestimmt«, sagte Melrose. »Ganz bestimmt. Aber Poe würde man sowieso nicht vergessen, oder? Wegen seiner Werke.«
»Das ist nicht dasselbe.« Sie nahm ihren Becher, trank aber nicht, sondern stellte ihn wieder hin. »Was wurde aus Julie?«
»Sie heiratete einen Korsaren. Sie wohnen in Minsk. Die Truhe, die die junge Frau erstanden hat - hast du da mal hineingeschaut, nachdem Beverly Brown sie gekauft hatte?«
»Sie wurde doch angeschossen!«
»Aber nicht tödlich getroffen. Hast du mal in die Truhe geschaut?«
Sie kaute an ihren Lippen und schien mit sich zu kämpfen, ob sie antworten sollte oder nicht. »Sagen Sie es auch
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