Fremde Federn
wandte er sich an seine Tochter:
»Fritzi, meine Liebe, du hast in einem Monat Geburtstag. Es wird Zeit, Vorbereitungen zu treffen. Was wünschst du dir am meisten?«
Fritzi saß rechts von ihrem Vater, an der Längsseite des Eßtisches. Ihr gegenüber saß ihr älterer Bruder Joey - Joe Crown junior - in mürrischem Schweigen wie immer. Der arme Joey war ständiger Kostgänger. Im Jahr 1901 hatte er sich von der Westküste nach Hause durchgeschlagen, nachdem er bei einem Gewerkschaftsstreik zum lebenslänglichen Krüppel gemacht worden war. Zwischen Vater und Sohn herrschte seitdem ein spannungsgeladener Waffenstillstand. Joey arbeitete in der Brauerei Crown, wo er nur Handlangerdienste verrichtete. Er und sein Vater fuhren getrennt zur Arbeit und wieder nach Hause, der General in seinem teuren Cadillac - er war begeisterter Autofahrer - und Joey mit der Tram.
Einen Augenblick lang überlegte Fritzi, sich Fahrstunden zu wünschen, doch dann entschied sie sich dagegen. Der General vertrat die Ansicht, daß Frauen nichts am Steuer eines Autos zu suchen hatten.
Nach einer kleinen Pause sagte sie: »Ich weiß nicht, Papa. Ich werde darüber nachdenken.«
»Tu das bitte, meine Liebe. Wie alt wirst du überhaupt?« Die Frage war ernst gemeint. Ihr eleganter, silberhaariger Vater ging auf die Fünfundsechzig zu und war mitunter schon vergeßlich. Noch heute hörte man den deutschen Akzent, den der junge Einwanderer Josef Kroner aus Aalen, einer Kleinstadt in Württemberg, mitgebracht hatte, wo die Familie Kroner seit Generationen beheimatet war.
»Sechsundzwanzig.« Es klang wie das Urteil aus dem Munde eines Richters.
Von der jähen Vergegenwärtigung ihres Alters hart getroffen, verbrachte sie eine schlaflose Nacht in ihrem alten Zimmer im zweiten Stock, dem Zimmer, in dem sie seit fast einem Jahr wohnte, seit ihrer Rückkehr nach Chicago.
Im Jahr 1905 hatte der General während einer letzten, großen sommerlichen Hitzewelle einen Schwächeanfall erlitten, der später als leichte Herzattacke diagnostiziert worden war. Er war auf einer Rednertribüne zusammengebrochen, wo er ruhig und eindringlich das Braugewerbe verteidigt hatte, um es im Bewußtsein seiner Zuhörerschaft von der Herstellung harter Spirituosen zu unterscheiden. Sein Publikum wollte weder von dem einen noch dem anderen etwas wissen, er sprach vor einer Gesellschaft von Abstinenzlern.
Ilsa Crown schalt ihren Mann töricht, überhaupt aufzutreten. Keiner seiner Kollegen, die Brauereien in Chicago besaßen, hatte den Mut, sich vor ein Publikum überzeugter Wassertrinker hinzustellen. Der General aber berief sich darauf, im Bürgerkrieg 1898 auf Kuba Schlimmerem getrotzt zu haben, so berichtete Ilsa später Fritzi. Außerdem sei es vielleicht von grundsätzlichem Nutzen.
Zwanzig Minuten nach Beginn seiner Rede klammerte er sich ans Pult, seine Knie knickten ein, er sank zur Seite.
Ilsas Telegramm erreichte Fritzi in jenem Mekka der Kultur, in Palatka, im Staate Florida. Sie trat dort mit der Mortmain Royal Shakespeare Combination auf, einem zweitklassigen Ensemble, dem sie sich 1901 als Schauspielschülerin angeschlossen hatte. Die Mortmain Combination brachte Shakespeare und andere Klassiker in diese südliche Baumwollgegend - von Ian Mortmains ruhmlosen Künstlern als »Kerosingürtel« bezeichnet, weil die Theaterbesitzer im Süden anscheinend noch nichts von elektrischen Rampenlichtern wußten oder zu geizig waren, um ihrem Publikum solche Juwelen der Technik vor die Füße zu werfen.
Kaum hatte Fritzi das Telegramm gelesen, kündigte sie bei Ian Mortmain. Noch in derselben Nacht bestieg sie den Zug nach Chica-go, um ihrer Mutter bei der Pflege des Vaters zu helfen. Der ohnehin nicht eben sanftmütige General war alles andere als ein einfacher Patient. Seine Bettlägerigkeit stellte seine Frau Ilsa auf eine harte Probe; auch ihr fehlten die Geduld und Kraft ihrer Jugendzeit.
Obwohl Ilsa ihre Tochter nicht darum gebeten hatte, nach Hause zu kommen, glaubte Fritzi, helfen zu können und zu müssen. Nach vier Jahren in billigen Eisenbahnwaggons, Hotelzimmern mit Ungeziefer, fetten Hühnereintöpfen und steinharten Brötchen, nach endlosen Vorstellungen in traurigen Baumwoll- und Tabakstädten, wo es Negerkneipen in eigens dafür vorbehaltenen Stadtteilen gab, nach schlampigen Proben mit verkaterten männlichen Kollegen, billigen Produktionen mit wackligen Kulissen, ganz zu schweigen vom Publikum, das die Schauspielkunst in der Regel nicht vom
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