Fremde Schiffe
gleichzeitig die schillerndste Zeit ihres Lebens. Die Erinnerung daran erregte und beschämte sie. Die Vorstellung, ihn zu empfangen, wenn er in Demut vor sie trat, war überwältigend.
Sie las den Brief zum zehnten Mal. Im Laufe der Jahre hatte sie sich daran gewöhnt, Larissas amüsante, giftige Schreiben zu lesen. Die seltenen Briefe Gasams waren kurz und grob gewesen. Nicht einmal die geschicktesten Schreiber vermochten die Brutalität des Mannes zu verbergen. Aber dieses Schreiben war anders. Gasam ließ sein Herz sprechen. Er war verletzt und verletzlich. Seine Worte nur zu lesen reichte nicht. Sie musste ihn sehen.
»Majestät«, sagte der Wächter an der Tür, »Prinz Ansa wünscht dich zu sprechen.« Sie nickte und Ansa wurde von vier Männern hereingetragen. Sie erhob sich und trat an die Bahre.
»Du hättest nach mir schicken sollen, Prinz Ansa. Ich wäre zu dir gekommen«, sagte sie.
»Es ist langweilig, immer nur die gleichen vier Wände anzusehen. Ist alles vorbereitet?«
»Graf Sachu hat angeboten, dich und Larissa auf seinem Flaggschiff nach Kasin zu bringen. Um diese Jahreszeit ist sein Schiff besser für eine Reise nach Süden geeignet als unsere. Er ist nicht so stark von günstigen Winden abhängig. Meine Matrosen und Soldaten werden euch begleiten. Sachu brennt darauf, meine Geschenke an Bord zu nehmen und seiner Königin Bericht zu erstatten. Ihre eigene Sturmzeit beginnt in Kürze und er möchte vorher zu Hause sein.«
Er warf einen Blick auf das Pergament. »Hast du von Gasam gehört?«
»Ja. Er schickte die Liste seiner Gesandten. Sie werden vermutlich in wenigen Tagen eintreffen.« Sie beschloss, ihm zu verschweigen, dass Gasam persönlich erschien. Er würde – wie die übrigen Männer – behaupten, sie verhielte sich närrisch.
»Wie schade, dass ich nicht hier sein kann«, sagte er.
»Ich bin sicher, du verpasst nichts. Reise in die Hauptstadt, ruhe dich aus und erhole dich. Wenn du wieder gesund bist, kommst du zurück. Schreibe deinem Vater und berichte ihm alles, was passiert ist. Du darfst einen meiner Kuriere fortschicken.«
»Das mache ich.« Wieder ergriff Ansa das durch die Medizin ausgelöste Gefühl der Leichtigkeit. Gleich würde er einschlafen. Er murmelte ein paar Abschiedsworte, verlor das Bewusstsein und wurde aus dem Zimmer getragen.
KAPITEL ELF
D er Wind blies ihr einen feinen Sprühregen salzigen Meerwassers ins Gesicht, als sie an Deck des fremden Schiffes auf und ab schritt. Sie hatte den Seewind immer geliebt. Als Gasam und sie kaum älter als Kinder waren, zogen sie über das Meer, um alle Sturminseln zu erobern, nachdem ihnen Gale, ihre Heimat, bereits gehörte. In jenen Tagen waren sie in einem großen Kriegskanu gereist, das von Shasinn gerudert wurde, die sich noch ein wenig ungeschickt anstellten. Das Meer war den Shasinn fremd, da ihre Herden seit vielen Generationen auf den Hochebenen ihrer Inseln weideten und die Männer nur gelegentlich zur Küste wanderten, um Handel zu treiben. Der Gedanke, festen Boden zu verlassen, gefiel ihnen nicht und sie hatten sich nur dem stählernen Willen ihres Königs gebeugt.
Wie in vielen Dingen unterschied sich Larissa auch hierin deutlich von ihrem Volk. Von Anfang an hatte sie das Auf und Ab der Wellen genossen, das ihr ein Gefühl von Freiheit und Bewegung vermittelte. Sie liebte es, wenn der Wind ihr Haar ergriff und sie mit Salzwasser benetzte. Wie eigenartig, das alles jetzt zu spüren, da sie in Ketten lag. Das Deck unter ihren Füßen bewegte sich gemächlich, wenn sie es mit einem Kanu verglich. So hoch über der Wasseroberfläche schien sich das Schiff nur langsam zu bewegen, obwohl sie genau wusste, dass ein Kanu lediglich sehr kurze Strecken hätte mithalten können. Nur Wind und Wasser blieben gleich.
»Hast du es bequem, Majestät?«
Sie drehte sich um und erblickte Graf Sachu. »So bequem“ wie es mit diesem Schmuck möglich ist.« Sie hob die Hände und die Ketten klirrten melodisch. »Ich dachte, du würdest dich nach der Gastfreundschaft, die ich dir in meiner Heimat erwies, nicht auf die Seite meiner Feinde schlagen.«
Er lächelte gezwungen. »Ich habe keinen Anteil an dem Krieg zwischen dir und Königin Shazad. Mein Schiff wurde mir mit Gewalt entrissen und keiner meiner Männer nahm an der Entführung teil.«
»Dennoch bringst du mich fort.«
»Nur als Passagier. Du bist nicht meine Gefangene, sondern Shazads. Es ist statthaft, dass ich dich befördere, ohne selbst in den
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