Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
Ahnung, warum Merle nicht redet?«
Mama sagt, du hast kein Herz.
»Ich bin wahrscheinlich eine Art Hexe für sie. Lydia wird ihr schon gesagt haben, was sie von mir zu halten hat.«
»Du hast in den vier Jahren, seitdem wir uns kennen, fast nie über deine Schwester gesprochen. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich an das Thema nicht rühren darf.«
Ich befreie mich aus der Umarmung und stehe auf. Öffne das Fenster.
»Es muss schlimm sein, wenn die eigene Schwester drogenabhängig wird. Aber warum …«
»Hör auf!«
»Ich will dir helfen.«
»Es tut mir nicht gut, an Lydia zu denken. Über sie zu reden. Sie in mein Leben zu lassen.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ich verstehe es selbst nicht.«
»Dann ist es kein Wunder, dass Merle nicht mit dir spricht.«
»Vielleicht spricht sie mit dir. Du hast gestern Morgen den Krankenwagen gerufen. Das hat dir Pluspunkte eingebracht.«
»Franka …«
»Am besten stehe ich dieses Wochenende allein durch. Sonst kriegen wir noch Streit.«
»Unsinn. Was hältst du davon, wenn wir essen gehen?«
»Ich habe niemanden, der auf Merle aufpasst.«
»Nein, wir gehen zu dritt.«
»Das hat keinen Zweck.«
»Wie wär’s mit dem toskanischen Restaurant in Winterhude?«
Sein Blick lässt mich nicht los.
»Bitte.«
»… Gut. Ich sag Merle Bescheid.«
Jan hat recht. Raus aus der Wohnung. Vielleicht wird es ihr gefallen, essen zu gehen. Auch wenn sie nicht mit uns spricht.
Ich öffne die Schlafzimmertür. Merle spielt mit Jans Murmeln. Der Fernseher ist ausgeschaltet.
»Wir wollen gleich zusammen was essen gehen. Du hast bestimmt Hunger. Nimm dir einen Pulli mit. Es ist schon kühl abends.«
Ich warte nicht ab, wie sie reagiert. Öffne meinen Kleiderschrank, greife nach einer weißen Hose und einer weißen Bluse. Dazu die kurze, schwarze Strickjacke. Die schwarzen Slipper.
Unter der Dusche werde ich ruhiger. Ich bin nicht verantwortlich für das Gelingen des Abends. Wenn Merle beim Essen stumm vor sich hinblickt, werde ich woanders hinsehen. Wenn sie anfängt, mit uns zu sprechen, werde ich so tun, als hätte sie nie geschwiegen.
Ich entscheide mich für die silbernen Schneckenohrringe und einen kupferfarbenen Lippenstift.
Als ich aus dem Bad komme, steht Merle mit einem Pullover über dem Arm an der Wohnungstür. Ihre Haare hat sie zu einem wirren Zopf geflochten. Er ist so dicht, er hält ohne Gummiband. Es könnte Lydia sein. Meine kleine Schwester mit dem ebenmäßigen Gesicht, den breiten Wangenknochen, den langen Wimpern. Was für ein schönes Kind, pflegten die Leute zu sagen. Die Blicke wanderten hin und her. Und das soll deine Schwester sein?
»Musst du noch mal verschwinden?«
Leichtes Kopfschütteln.
»Dann können wir los.«
Jan ist auf dem Sofa eingenickt. Er lächelt im Schlaf. Ich gebe ihm einen Kuss. Merle beobachtet uns.
»Ich bin tatsächlich eingeschlafen«, murmelt Jan und reckt sich.
»Wir sind so weit.«
»Hallo, Merle.« Er lächelt.
Sie sagt nichts.
Jan geht darüber hinweg. Vielleicht ist ihr Schweigen so am besten zu ertragen.
Sein alter Saab steht direkt vor der Tür. Ich stutze. Auf der Rückbank hat er einen Kindersitz montiert. Merle schnallt sich nicht an, will ich ihm sagen. Ich sage nichts.
»Der Sitz ist von meinem Sohn Gregor«, erklärt Jan. »Er ist zweiundzwanzig und braucht ihn nicht mehr.«
Merle nimmt Platz. Lässt sich anschnallen. Wir fahren los.
Vor dem Restaurant gibt es eine Schlange.
»Da warten wir ewig«, sage ich.
»Ich habe einen Tisch reserviert«, antwortet Jan.
Wir sitzen am Fenster und schauen in die Speisekarte. Lesen Merle abwechselnd vor, was es zu essen gibt.
Plötzlich springt sie auf und rennt auf den Ausgang zu. Ich laufe hinter ihr her. Sie verschwindet zwischen den wartenden Gästen. Wenn sie auf die Straße läuft. Wenn ein Wagen nicht mehr rechtzeitig bremsen kann.
Ich stürze an den Leuten vorbei. Erwische Merle gerade noch, bevor sie um die Straßenecke biegt.
»Wo willst du denn hin?«, frage ich und versuche, ihren Arm nicht zu fest zu halten.
Merle beginnt, lautlos zu weinen. Ich nehme sie in die Arme, drücke sie an mich. Sie wehrt sich nicht, aber sie erwidert die Umarmung auch nicht.
»Es tut mir leid«, flüstere ich.
Wir stehen regungslos da. Fußgänger und Radfahrer machen einen Bogen um uns. Irgendwann sehe ich Jan. Er hält nach uns Ausschau. Jetzt hat er uns entdeckt. Er kommt mir auf einmal älter vor als fünfzig. Der kurze, graue Haarkranz. Die leicht
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