Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
Plötzlich ist sie da, die erlösende Idee. Es ist schon dämmrig. Niemand wird mich sehen. Ich renne die Treppe hinunter und weiter in den Garten, zu unseren Beeten. Meine Stiefmütterchen sind längst verblüht. Lydias Kartoffeln sind fast reif. Auf was für originelle Ideen sie kommt, unsere kleine Lydia, sagt Mutter. Jeder pflanzt Blumen. Sie pflanzt Kartoffeln. Ein ganzes Beet voller dunkelgrüner Pflanzen. Ich greife nach der ersten und reiße sie raus. An den Kartoffeln klebt feuchte Erde. Jetzt die nächste und dann die daneben. Mir wird heiß. So viele Pflanzen. Ich fühle mich leicht. Ich habe es geschafft. Das Beet ist leer. Ich laufe mit meiner Beute durch den Garten. Krieche durch das Loch im Zaun. Werfe die Pflanzen mit den baumelnden Kartoffeln in den Kanal. Ruck zuck, weg sind sie. Ich bin schon fast wieder im Haus. Da steht Mutter und sieht meine Hände und läuft zu Lydias Beet. Ein Schrei. Ich renne. Sie packt mich. Greift mir hart in den Nacken. Komm mit nach oben. Lydia brüllt. Sie kratzt und beißt mich. Mutter hindert sie nicht. Könnt ihr nicht Ruhe geben!, ruft Vater. Er will nichts hören von Lydias Kartoffeln. Ich muss arbeiten, sagt er. Einer in dieser Familie muss schließlich das Geld verdienen.
Ich richte mich auf. Wir alt war ich? Acht oder neun? Lydias Begeisterung für ihre Kartoffeln. Wochenlang sprach sie von nichts anderem. Sie begoss die Pflanzen, jätete das Unkraut, malte sich aus, was sie nach der Kartoffelernte am liebsten essen würde. Sie entschied sich für Reibekuchen. Später musste ich Kartoffeln kaufen und reiben. Aber Lydia rührte meine Reibekuchen nicht an. Drei Monate lang bekam sie mein Taschengeld. Immer wieder sagte Mutter, wie enttäuscht sie von mir sei. Wie könne ich nur so neidisch sein auf meine kleine Schwester. Sie sei ratlos, was aus mir noch mal werden würde. Kartoffelmonster! Kartoffelmonster!, schrie Lydia, wenn wir draußen mit den Nachbarskindern spielten. Wenn Oma zu Besuch kam. Wenn ich im Schwimmbad mit einer Freundin auf der Wiese lag. Lydia brauchte ein Publikum. Und ich musste erklären, wie es zu diesem Wort gekommen war, das ich so hasste.
Merle trägt ihre Turnschuhe in der Hand.
Wir wollen in die Klinik. Ich öffne die Wohnungstür. Deute auf die Schuhe. Merle schaut mich an. Sie will sie nicht anziehen. Ich sage nichts. Vielleicht hat sie Blasen bekommen. Soll sie barfuß laufen. Sie wird in keine Scherbe treten. Bald werden sich ihre Füße an Schuhe gewöhnt haben.
»Dann lass sie zu Hause.«
Nein, sie nimmt sie mit.
Wir kommen auf die Station. Merle läuft auf Lydias Zimmer zu. Die Schuhe lässt sie unterwegs fallen. Warte, will ich rufen. Da ist sie schon im Zimmer verschwunden. Wir hätten die Schwester fragen müssen. Wenn Lydia gerade untersucht wird. Oder Blut spuckt.
Ich hebe die Schuhe auf. Lydia darf sie nicht sehen.
»Ist die Kleine bei ihrer Mutter?«
Ich blicke hoch. Es ist die Ärztin.
»Tut mir leid. Sie war nicht zu halten.«
»Macht nichts. Die Mutter sehnt sich genauso nach ihrer Tochter.«
»Wie geht es ihr?«
»Gegenüber gestern hat es eine Verschlechterung gegeben.«
»Wirken die Medikamente nicht?«
»Wir müssen abwarten. Ihre Schwester ist sehr schwach. Aber vielleicht bessert sich ihr Zustand bald.«
»Wie steht es um meine Nichte? Haben Sie schon das Ergebnis der Blutuntersuchung?«
»Ja. Sie hat sich zum Glück nicht infiziert.«
Ich atme auf. Merles Übelkeit, die Bauchschmerzen. Es war die Aufregung oder ein kleiner Infekt.
»Ich habe Ihre Schwester gefragt, wer der Vater des Kindes ist. Sie hat mir keine Antwort gegeben.«
»Das wundert mich nicht.«
»Die Stationsschwester hat es vorhin auch noch mal versucht. Ihre Schwester hat sehr heftig reagiert. Wahrscheinlich weiß sie es wirklich nicht. Aber ich hoffe, dass sie uns die Namen derer nennen wird, die für eine Vaterschaft in Frage kommen.«
»Ich … werde mich gleich zu ihr setzen, obwohl ich vermutlich die Letzte bin, mit der sie sprechen will.«
»Lassen Sie sich Zeit. Unsere Schwesternschülerin wird sich um das Kind kümmern.«
Merle kommt verweint aus Lydias Zimmer. Sie blickt mich nicht an. Greift nur schnell nach ihren Schuhen und lässt sich von einer jungen Schwester in das Stationszimmer führen.
Sie ist so klein.
Ich klopfe an Lydias Tür. Keine Antwort. Sie wird mich nicht hereinrufen.
Ich trete ein. Der süßliche Geruch schlägt mir entgegen. Reiß dich zusammen.
Lydias Gesicht ist noch grauer und
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