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Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Titel: Fremde Schwestern: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Ahrens
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vornübergebeugte Haltung. Er geht zurück.
    Die lange Liste der Speisen. Wie konnten wir nur.
    »Möchtest du nach Hause?«, frage ich Merle.
    Sie schüttelt den Kopf.
    »Hast du Hunger auf Spaghetti?«
    Sie nickt. Ich streiche ihr über den Kopf. Wir gehen langsam ins Restaurant zurück.
    »Da seid ihr ja wieder«, sagt Jan und lächelt.
    Merle bleibt bei ihrem Schweigen.
    Wir bestellen dreimal Spaghetti alla carbonara. Dazu für jeden einen gemischten Salat. Merle isst hastig ihre beiden Teller leer und schafft sogar noch ein Himbeereis mit Schlagsahne zum Nachtisch.
    Wir versuchen zu reden. Es geht nicht. Merles Schweigen steht zwischen uns.
    Irgendwann frage ich nach dem Konzert gestern Abend. Jan erzählt von Schuberts Sonate in a-Moll, op. 42. Eines seiner Lieblingsstücke.
    »Jan ist Pianist«, erkläre ich. »Es ist sein Beruf, Klavier zu spielen.«
    Merle blickt auf ihre Hände.
    »Magst du Musik?«, fragt Jan.
    Sie sieht ihn an und nickt.
    »Was für Musik?«
    Sie presst ihre Lippen aufeinander.
    »Singst du gern?«, frage ich und denke an einen Nachmittag bei Mutter. Lydia wiegte die neugeborene Merle in ihren Armen und sang sie in den Schlaf. »Deine Mutter konnte so schön singen.«
    Merle schaut mich erschrocken an. Natürlich. Ich hätte Lydia nicht erwähnen dürfen. Dabei wollte ich ihr nur zeigen, dass ich auch gute Erinnerungen an ihre Mutter habe.
    »Sollen wir zahlen?«, fragt Jan und legt mir kurz die Hand auf die Schulter.
    Eine Geste, die mich beruhigen soll. Was habe ich gesagt? Vor meinen Augen flimmert es. Ich habe über Lydia gesprochen, als sei sie schon tot. Merle wird denken, ich hätte ihre Mutter aufgegeben. Habe ich sie aufgegeben? Alles ist möglich. Lydia kann zu Kräften kommen oder weiter abbauen. Sie kann erfolgreich operiert werden oder ins Koma fallen. In ein paar Monaten kann sie voller Energie oder für immer verstummt sein. Ich sehe sie vor mir, wie sie wieder ihre Sachen packt, um im Ausland ihr Glück zu suchen. Ich sehe auch den Sarg, in dem wir sie beerdigen.
    »Komm«, höre ich Jan sagen. »Wir gehen.«
    Auf dem Weg zurück zum Wagen ist mir kalt. Ich hätte Strümpfe anziehen sollen.
    »Frierst du?«, frage ich Merle.
    Sie schüttelt den Kopf. Wer so gelebt hat wie sie, friert nicht so schnell.
    Auf der Nachhausefahrt lässt Jan kein Schweigen aufkommen. Erzählt von seinem Trio. Den Proben für das Konzert im Mecklenburgischen. Von einem neuen Studenten. Klavier, Querflöte, ungewöhnliche Kompositionen. Von dem Ärger mit den Leuten aus dem zweiten Stock. Eine neue Beschwerde. Im Mietvertrag festgelegte Übungszeiten. Die Mittagsruhe hält er immer ein.
    Ich versuche, Jan mit Merles Ohren zuzuhören. Was stellt sie sich unter einem Trio, einer Komposition, einem Mietvertrag vor?
    Zu Hause geht Merle sofort in ihr Zimmer. Hat sie jemals eine Zahnbürste in der Hand gehalten? Auf einen Tag mehr oder weniger kommt es nicht an.
    »Schlaf gut«, rufe ich ihr von der Tür aus zu.
    Sie sitzt auf dem Bett und drückt ihren zusammengerollten Pulli an sich. Wie andere Kinder ein Stofftier an sich drücken. Warum habe ich heute Nachmittag nicht daran gedacht, ihr einen Teddybären oder einen Plüschhasen zu kaufen?
    Ich gehe vorsichtig einen Schritt auf sie zu. Sie dreht sich zur Wand. Der kleine, gerade Rücken.
    »Merle …«, flüstere ich.
    Sie rührt sich nicht.
    Leise schließe ich die Tür hinter mir und gehe ins Wohnzimmer.
    Jan steht am Fenster und blickt nach draußen.
    »Möchtest du ein Glas Rotwein?«
    »Ja.«
    Ich greife nach der halbvollen Flasche Côtes du Rhône. Vor zwei Tagen haben wir sie geöffnet. Wir saßen auf dem Balkon und sprachen über eine Fahrt in die Provence, im September, vor Beginn des Semesters. Das Angebot eines Kollegen von Jan. Ein leerstehendes Haus in Saint-Rémy. Wir wollten dort ausspannen, auch etwas arbeiten.
    »Zum Wohl«, sage ich leise.
    »Darauf, dass Merle bald mit dir spricht.«
    »Das wird nicht passieren.«
    »Ich weiß, dass du sie so schnell wie möglich woanders unterbringen möchtest, aber damit ist es nicht getan.«
    »Was ist damit nicht getan?«
    »So wirst du das Problem nicht lösen können.«
    »Ich habe dir schon mal gesagt, misch dich nicht ein.«
    »Irgendwas bedrückt dich. Und das hat mit Lydia zu tun. Ich glaube, früher oder später musst du dich mit ihr auseinandersetzen.«
    »Ich bin für sie eine Feindin! Du hättest ihr Lächeln sehen sollen, als ich ihr heute Morgen gesagt habe, dass Merle nichts von

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