Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
mir wissen will. Wen sie nicht mag, den mag sie nun mal nicht. Wahrscheinlich lobt sie Merle dafür, wenn sie sich weigert, mit mir zu sprechen.«
»Du musst einen Weg finden, den Kontakt zu Lydia zu verbessern, auch wenn es dir schwerfällt. Sonst wird Merle zwischen euch zerrieben.«
»Aber warum?«
Jan stellt sein Glas auf dem Schreibtisch ab und legt seine Hände auf meine Schultern.
»Franka …«
»Wieso soll ich mich für diese Menschen verantwortlich fühlen? Ich habe nichts mit ihnen zu schaffen.«
»Vielleicht, weil sie sonst niemanden haben.«
»Das wissen wir nicht. Keiner hat sich bisher darum bemüht, festzustellen, wer Merles Vater ist.«
»Du hast gesagt, dass Lydia es wahrscheinlich selbst nicht weiß.«
»Ich verspreche dir, dass ich sie morgen fragen werde.«
»Gehen wir davon aus, dass der Vater unbekannt ist. Was passiert, wenn Lydia stirbt?«
»Keine Ahnung. Das ist nicht meine Sache.«
»Ich weiß nicht, ob du dich da nicht täuschst. Als nächste Verwandte wird man wahrscheinlich dich fragen, ob du bereit wärst, Merle bei dir aufzunehmen.«
»Das hat die Ärztin auch gesagt. Aber ich könnte es nicht. Niemals! Wie stellst du dir das vor?«
»Es geht nicht darum, was ich mir vorstelle, sondern darum, dass vielleicht eine solche Entscheidung auf dich zukommen wird.«
Ich befreie mich aus Jans Griff und setze mich in den Sessel.
»Noch ist Lydia nicht tot. Vielleicht erholt sie sich bald wieder. Dann sollst du mal sehen, wie schnell sie mit Merle verschwunden ist.«
»So wie du vorhin im Restaurant von ihr gesprochen hast, scheinst du sie bereits aufgegeben zu haben.«
»Nein …«
Er sieht mich zweifelnd an.
»Können wir mal über was anderes reden?«
Ich greife zur Weinflasche und will uns nachschenken. Jan schüttelt den Kopf.
»Hast du was von Gregor gehört?«
»Er hat gestern aus San Francisco angerufen.«
»Und?«
»Es geht ihm gut.«
»Wann kommt er zurück?«
»Das weißt du doch. Mitte April, wenn das Sommersemester anfängt.«
»Natürlich …«
Kurz darauf steht Jan auf und verkündet, dass er jetzt fahren werde. Einen Moment lang weiß ich nicht, was ich sagen soll. Ich zeige auf mein Schlafsofa. Es ist breit genug für uns beide. Nicht ganz so bequem wie das Bett. Aber Jan will nach Hause.
Er verspricht, mich morgen anzurufen. Gibt mir einen flüchtigen Kuss.
Vom Fenster aus sehe ich, wie er zu seinem Wagen geht und die Tür aufschließt. Bevor er einsteigt, blickt er zu mir nach oben. Ich winke ihm zu. Er winkt nicht zurück. Er muss mich in dem hell erleuchteten Zimmer gesehen haben.
Viertel vor vier. Es ist sinnlos, über Jans Reaktion nachzudenken. Er hat sich über mich geärgert. Ist enttäuscht von mir. Ich kann es nicht ändern.
In der Wohnung ist es still. Nur von draußen dringen einzelne Geräusche zu mir herauf. Ein vorbeifahrendes Motorrad, das Lachen zweier Frauen, ein bellender Hund. Hört Merle ihn auch? Oder kann das Bellen eines Hundes sie nicht wecken? Ist sie noch da? Ich stehe jetzt nicht auf. Sehe nicht nach. Die Wohnungstür ist nicht abgeschlossen. Hätte ich sie abschließen sollen? Ich werde schlafen, endlich schlafen.
Es gelingt mir nicht. Um fünf stehe ich auf und gehe ins Bad. Als ich in den Flur zurückkomme, sehe ich Licht im Schlafzimmer. Vorsichtig öffne ich die Tür. Merle sitzt im Bett und blättert in Ann-Kristins Bilderbuch.
»Habe ich dich geweckt?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Soll ich dir was aus dem Bilderbuch vorlesen?«
Erneutes Kopfschütteln.
»Wie wär’s mit einem heißen Kakao?«
Merle runzelt die Stirn. Weiß sie nicht, was Kakao ist?
»Der ist lecker.« Ich klinge fröhlicher, als mir zumute ist. »Ich trinke auch einen. Machen wir es uns in der Küche gemütlich?«
Als ich Merle kurz darauf Bescheid sagen will, brennt kein Licht mehr im Schlafzimmer. Auf Zehenspitzen gehe ich zu ihrem Bett. Sie liegt zusammengerollt unter der Decke. Das Bilderbuch ist auf den Boden gefallen. Ich höre sie atmen, kurz und kräftig. Sie schläft nicht, ganz sicher nicht. Hier geht es nur darum, mir zu zeigen, dass sie nichts mit mir trinken will.
In der Küche betrachte ich die beiden Becher mit heißem Kakao. Ich lasse sie stehen. Schenke mir einen Calvados ein. Trete ans Küchenfenster. Es wird bald hell. Wieder ein Tag, den ich nicht überblicken kann. Vielleicht ist das das Schlimmste. Nichts mehr überblicken zu können.
9.
I n mir bohrt der Neid. Ich kann an nichts anderes mehr denken.
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