Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
weit von meiner Wohnung entfernt.«
»Sehr gut.«
Punkt für Punkt geht sie ihre Liste mit mir durch. Ich habe rasende Kopfschmerzen. Übernahme der Krankenhauskosten durch den Sozialhilfeträger. Beantragung von Sozialhilfe für Lydia. Pflegegeld für erzieherische Betreuung. War es die richtige Entscheidung? Ich kann nicht mehr zurück.
»Sie sind nicht verpflichtet, für Ihre Nichte finanziell aufzukommen. Falls Ihre Schwester sich erholt und irgendwann entlassen werden kann, um auf eine Spenderleber zu warten, wird sich der Sozialdienst auch um die Beschaffung einer geeigneten Unterkunft für sie kümmern, sei es in einer eigenen Wohnung oder in einer Wohngruppe. Sie werden Ihre Schwester nicht bei sich aufnehmen müssen.«
»Das wäre auch undenkbar.« Ich brauche ein Aspirin.
»Wenn sie zu dem Zeitpunkt physisch und psychisch wieder stabil genug ist, um ihre Tochter versorgen zu können, eventuell mit Hilfe einer sogenannten Familienbegleitung, wird Ihre Nichte zu ihrer Mutter zurückkehren. Das bleibt abzuwarten.«
Lydia und ich in einer Wohnung. Nachts müsste ich mich einschließen.
»Grundsätzlich streben wir eine Rückführung in die Ursprungsfamilie an, aber es muss zum Wohl des Kindes sein.«
Merle sitzt weinend im Stationszimmer.
»Mama erlaubt nicht, dass ich in die Schule gehe!«
Ich nehme sie in die Arme. Sie wehrt sich nicht.
»Ich werde gleich mit deiner Mutter sprechen«, sagt die Sozialarbeiterin.
Merle hört auf zu weinen.
»Erzähl mal, was hast du in den letzten beiden Tagen erlebt?«
Das Äffchen im Tierpark. Jans Flügel. Die Turnschuhe, die Anziehsachen. Nudeln mit Tomatensauce und Pizza und Quarkspeise mit blauen Beeren.
»Möchtest du bei deiner Tante bleiben, solange deine Mama krank ist?«
»Ja … wenn das geht …« Merle blickt mich an.
Ich nicke.
Wir warten. Merle schaut zur Tür. Quartett spielen will sie nicht. Springt auf, läuft auf den Flur. Kommt zurück, setzt sich hin. Springt wieder auf.
»Merle …«
Sie hält inne. »Mama redet im Schlaf.«
»Wie kommst du jetzt darauf?«
»Hat sie vorhin gemacht. Als ich in ihr Zimmer kam.«
»Hast du’s ihr gesagt?«
»Ja. Und da ist sie böse geworden.«
Warum redet Lydia, wenn sie schläft?, frage ich Mutter beim Frühstück. Sie hat so viel Phantasie, dass ihr nachts der Kopf überquillt, antwortet Mutter und streicht Lydia über die Haare. Und was rede ich?, kräht Lydia. Letzte Nacht hast du gesagt: Ich will tanzen, tanzen, tanzen. Will ich ja auch, ruft Lydia. Und sie tanzt so schön, unsere Lydia, sagt Mutter stolz. Ganze Nachmittage bietet Lydia Programm. Mutter starrt dann nicht in die Ferne. Mutter ist dann glücklich. Unsere kleine Künstlerin. Aus der wird mal was Besonderes. Ich kann nicht tanzen. Mein Kopf quillt nicht über. Ich habe keine Phantasie. Ich bin nur gut in der Schule. Lydia könnte Tänzerin werden, sagt Mutter, oder Sängerin. Oder Schauspielerin. Schauspielerin, wie ich. Wieder streicht Mutter Lydia über die Haare. Ja, ruft Lydia, alles auf einmal. Mutter und Schauspielerin? In mir kocht die Wut hoch. Vater sagt, das muss in einem anderen Leben gewesen sein. Ich hatte ein Angebot, schreit Mutter, eine Hauptrolle. Mutter Courage. Und dann wurde ich schwanger. Mit dir! Mutter sieht mich böse an. Du kannst mit mir Theater spielen, ruft Lydia. Dann bist du die Königin, und ich bin die Prinzessin. Mein kleiner Schatz, sagt Mutter und drückt sie an sich. Lydia kichert und zeigt auf mich. Und du bist die Hexe. Da knalle ich ihr eine. Mutter packt mich und schließt mich im Badezimmer ein. Ich sitze auf dem Rand der Wanne. Mutter hält immer zu Lydia. Lydia tanzt und singt und erzählt verrückte Geschichten. Wenn ich eine Geschichte erzähle, wandern Mutters Blicke woanders hin. Ihre Finger klopfen auf den Tisch. Ich gerate durcheinander oder vergesse das Wichtigste. Keiner lacht. Manchmal sagt Lydia, die Geschichte hat aber lange gedauert. Ich starre auf die grünen Fliesen. Ich werde nichts mehr erzählen. Nur meinem Tagebuch. Und das schließe ich ab und trage den Schlüssel an einer Kette um den Hals. Niemand weiß, was ich denke.
Eifersucht unter Geschwistern. Nichts Ungewöhnliches. Wie eine Stichflamme schoss sie in mir hoch. Und verschwand genauso schnell wieder. Wenn Mutter nebenan weinte oder mit Vater stritt.
Ich nahm Lydia in die Arme und hoffte, sie würde es nicht hören.
Irgendwann wurde daraus Hass. Und der ist nicht mehr verschwunden.
»Es ist alles
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