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Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Titel: Fremde Schwestern: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Ahrens
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geklärt.«
    Ich blicke hoch. Vor mir steht die Sozialarbeiterin. Sie überreicht mir Merles Kinderpass und die unterschriebene Vollmacht.
    »Ich darf in die Schule! Ich darf in die Schule!«, jubelt Merle.
    »Ihre Schwester möchte jetzt allein mit Ihnen sprechen.«
    »War es schwierig?«
    Sie nickt.
    Lydia sitzt aufrecht im Bett. Sie wirkt kräftiger als gestern. Ihre Nachbarin ist bleich. Eine Zumutung, diese Gespräche mitanhören zu müssen.
    »Hättest du mich nicht anrufen können, bevor du mit Merle über die Schule sprichst?«
    »Ich habe kein Wort darüber gesagt. Sie hat gestern Abend selbst davon angefangen. Außerdem hast du am Freitagmorgen gesagt, es wird Zeit, dass Merle in die Schule kommt.«
    »Wer weiß, was du für eine ausgewählt hast. Vermutlich die, die am bequemsten zu erreichen ist.«
    »Die Grundschule Knauerstraße ist mir empfohlen worden.«
    »Von wem?«
    »… Esther.«
    Lydia verdreht die Augen.
    »Merle sehnt sich nach einer eigenen Welt, nach anderen Kindern, nach Dingen, die sie lernen kann. Außerdem würde es sie etwas ablenken. Das wäre nicht das Schlechteste.«
    »Du willst das Kind nur loswerden, um deine Drehbücher zu schreiben.«
    »Ich will sie nicht loswerden, aber ich muss auch wieder arbeiten. Da hast du recht.«
    »Merle ist so begabt. Ich möchte nicht, dass ihre Talente in irgendeiner stumpfsinnigen Schule verkümmern.«
    »Du klingst wie Mutter früher.«
    »Es hat dich immer erbost, wenn sie für mich Partei ergriffen hat.«
    »Sie hat dir dadurch das Leben nicht leichter gemacht.«
    »Du warst nur neidisch auf mich.«
    »Natürlich. Mir wurden Grenzen gesetzt und dir nicht. Das fand ich ungerecht, aber es hat mir geholfen, im Leben zurechtzukommen.«
    Lydia blickt mich spöttisch an, als wolle sie sagen, dass sie Zweifel habe, ob ich im Leben zurechtkomme. »Mutter hat an mich geglaubt.«
    »Wenn sie nicht gerade depressiv war.«
    »In dieser Ehe wäre ich auch depressiv geworden.«
    »Sie hätte in ihren Beruf zurückkehren müssen, statt dich zum Wunderkind zu ernennen. Dann wär’s ihr besser gegangen.«
    »Was weißt du schon …«
    Da ist sie wieder, die Verachtung. Mit Lydia lässt sich nicht reden, auch wenn ich für ein paar Sekunden die Hoffnung hatte, wir würden auf weitere Anfeindungen verzichten. Merle zuliebe.
    Ich stehe auf.
    »Du erträgst es immer noch nicht, über unsere Eltern zu sprechen.«
    »Ich ertrage es nicht, wie du mit mir sprichst.«
    »Dann geh doch.« Lydia schließt die Augen.
    Ich verabschiede mich nicht.

    Beim Einwohnermeldeamt haben wir Glück. Keine langen Warteschlangen, keine komplizierten Fragen.
    Nach einer halben Stunde halte ich Merles Anmeldebestätigung mit dem Stempel des heutigen Tages in Händen: 1. September 2003.
    »Und Mama? Wo wohnt die?«
    »… Im Krankenhaus.«
    Merle zögert. Gibt sich mit der Antwort zufrieden.
    »Gehen wir jetzt zur Schule?«

    Sie hüpft, rennt voraus, hüpft zurück. Fragt mich nach den anderen Kindern, den Lehrern, den Büchern. Will wissen, warum ich ihr keine Antworten geben kann. Ich sei doch schon zur Schule gegangen.
    Ein altes Backsteingebäude. Merles Augen leuchten.
    Der Geruch im Flur erinnert mich an meine alte Schule. Dasselbe Putzmittel. Merle scheint nichts zu riechen. Zeigt begeistert auf die Kinderbilder an den Wänden. Lauter bunte Tiere.
    Die Sekretärin führt uns zur Schulleiterin. Eine Frau in meinem Alter.
    »Ich möchte in die Schule«, sagt Merle und strahlt.
    Sie gibt uns die Hand. Wir folgen ihr ins Büro.
    Ich überreiche ihr die Unterlagen. Es fehlt nichts. Ich fülle Formulare aus. Anwesenheitspflicht für Erstklässler von neun bis elf Uhr dreißig. Beaufsichtigung von acht bis dreizehn Uhr. Mittagessen möglich. Nachmittagsbetreuung bis sechzehn Uhr.
    Ich lehne mich zurück. Wenn Merle hier gut zurechtkommt und es ihr nichts ausmacht, bis nachmittags zu bleiben, kann ich bald wieder arbeiten.
    »Wann darf ich anfangen?«, fragt Merle ungeduldig.
    »Morgen früh.« Die Schulleiterin lächelt. »Du kommst in die 1 b. Das ist die Klasse von Frau Rathjens. Dein Klassenzimmer liegt im 1. Stock, gleich vorne rechts.«
    Merle kneift mich in den Arm.
    »Hier ist die Liste der anzuschaffenden Bücher und Hefte. Es wäre schön, wenn Merle morgen alles komplett dabeihätte. Am besten bringen Sie sie gleich um acht. Dann kann sie Frau Rathjens kennenlernen, bevor die anderen Kinder kommen.«

    Wir stehen wieder auf der Straße. Ich bin erschöpft.
    »Kaufen wir

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