Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
jetzt meine Bücher?«
Ich will mich ausruhen, etwas trinken. Merle schüttelt den Kopf.
Wir kaufen einen Schulranzen, Bücher, Hefte, Stifte, Wachsmalkreide. Dazu einen Malblock, Wasserfarben, Pinsel und einen dicken, weichen Radiergummi.
Schwer beladen kehren wir in ein italienisches Restaurant ein. Meine Müdigkeit ist verflogen. Merle blickt immer wieder in ihre Tüten.
»Ist Frau Rathjens jung oder alt?«
»Weiß ich nicht. Was ist alt?«
»Älter als Mama und du. Omis sind alt.«
13.
M erle sitzt auf dem Bett, inmitten ihrer Schulsachen. Sie betrachtet die Farben in ihrem Malkasten.
»Ich muss telefonieren und etwas arbeiten.«
Sie nickt abwesend.
Ich schließe die Türen, wähle Jans Nummer. Er nimmt sofort ab. Wirkt erleichtert, als ich ihm erzähle, dass ich Merle erst mal bei mir behalten werde.
»Wenn Lydia stirbt, muss alles neu überlegt werden.«
Darauf sagt er nichts. Will nur wissen, wie es Merle geht.
»Gut. Ich habe sie in der Grundschule Knauerstraße angemeldet. Sie kann dort auch essen und bis nachmittags um vier in eine Spielgruppe gehen.«
»Ist das nicht zu viel auf einmal?«
»Sie wollte unbedingt in die Schule. Es wird ihr helfen, sich hier zurechtzufinden.«
»Ich hätte gedacht, dass sie etwas Zeit braucht, um die letzten Tage zu verdauen.«
»Ich habe sie nicht dazu überredet, falls du das meinst.«
»Nein, aber so ein durchstrukturierter Alltag …«
»Was ist schlecht daran? Ich muss schließlich auch arbeiten.«
»Reg dich nicht gleich auf.«
»Wenn Merle nicht in die Spielgruppe will, werde ich sie nicht zwingen, dort hinzugehen.«
»Nein, aber sie spürt sicher, wie wichtig dir das ist.«
Was soll das? Wirft er mir vor, dass ich nicht genug auf Merles Bedürfnisse eingehe?
Ihn fragen, wie sein Tag verlaufen ist. Ihm von unseren Einkäufen, von meinem Gespräch mit Lydia erzählen. Nein.
Ich höre ein Räuspern. »Bist du noch da?«
»Ja.«
»Wollt ihr heute Abend zu mir zum Essen kommen?«
»… Ich weiß nicht …«
»Es würde Merle gefallen.«
»Ich glaube, wir bleiben hier. Wir müssen morgen früh aufstehen.«
»Dann komme ich nachher kurz vorbei.«
»Aber nicht so spät.«
Ich lege auf, gehe auf den Balkon, zupfe ein paar verblühte Margeritenblüten ab. Meine Kopfschmerzen setzen wieder ein.
Wie war’s heute?, fragt Vater. Wir haben die Englischarbeit zurückbekommen. Und? Ich habe eine Eins. Das hatte ich auch erwartet. Du schreibst immer nur Einsen, stöhnt Lydia. So was Langweiliges. Daran solltest du dir ein Beispiel nehmen, sagt Vater. Wenn du so weitermachst, kommst du nicht mal auf die Realschule. Will ich auch gar nicht. Und was soll aus dir werden? Eine Ballerina!, ruft Lydia. Eine Primaballerina! So ein Quatsch! Nur weil deine Mutter glaubt, dass du begabt bist. Mama sagt, du verstehst nichts von Künstlern!, ruft Lydia. Aber sie, was? Dass ich nicht lache. Wo ist sie überhaupt? Im Schlafzimmer, antworte ich. Und was hat sie heute? Wieder Migräne oder zur Abwechslung mal was am Magen? Hat sie nicht gesagt. Ich gehe zu ihr, verkündet Lydia. Nein!, rufe ich, sie will allein sein. Aber da ist Lydia schon weg. Die beiden halten doch immer zusammen, sagt Vater. Wir schweigen eine Weile. Soll ich ihn fragen, warum Mutter manchmal diesen leeren Blick hat? Morgens ist sie noch normal, und mittags redet sie nicht mehr mit uns. Wie viele Einsen gab es insgesamt?, fragt Vater. Drei. Und wie stehst du im Moment in Mathematik? Auf einer Zwei. Warum nicht auf einer Eins? Mir schießt das Blut in den Kopf. Ist es nie gut genug? Ich bin die Beste in der Klasse, vielleicht sogar die Beste in meinem Jahrgang. Franka, ich habe dich was gefragt. Weil der neue Lehrer nicht so gut erklären kann, murmele ich. Das ist kein Grund. Dann musst du lernen, es dir selbst beizubringen. Es folgt ein Vortrag über seine Lernsysteme. Kenn ich alles schon. Wenn er in seinem Jurastudium nicht seine Lernsysteme gehabt hätte. Um erfolgreich zu sein, braucht man Systeme, funktionierende, wandelbare Systeme. Aus dem Flur ist jetzt Lydias Weinen zu hören. Kurz darauf fällt die Kinderzimmertür ins Schloss. Vater und ich sehen uns an. Gleich wird er weiter über seine Lernsysteme reden. Ich bin es so leid, bricht es da aus ihm heraus. Was?, frage ich und spüre meinen Puls, ganz oben am Hals. Das alles hier. Ich wollte weg, damals schon, aber dann … Was, dann?, frage ich. Wurde deine Mutter wieder schwanger. Sie hat es drauf angelegt, das weiß ich. Wenn ich
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