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Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Titel: Fremde Schwestern: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Ahrens
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dieses Kind sehe … Er presst die Lippen zusammen. Aber was kann Lydia dafür?, frage ich leise. Nichts, antwortet er. Nur ich kann auch nichts für meine Gefühle. Dieses Kind hat mein Leben ruiniert. Er steht auf und geht mit schnellen Schritten zur Tür. Kümmere dich um sie. Einer muss es ja tun. An diesem Abend essen wir ohne Vater. Weder Mutter noch Lydia fragen, wo er ist. Als wir im Bett liegen, fängt Lydia wieder an zu weinen. Du wirst bestimmt eine Ballerina, sage ich. Du musst nur hart genug üben. Darüber schläft Lydia irgendwann ein. Ich liege wach. Vater kommt erst spät in der Nacht zurück. Laute Stimmen dringen aus dem Schlafzimmer. Ich vergrabe den Kopf unter meinem Kissen. Ein dumpfes Dröhnen höre ich immer noch.

    Ich arbeite nicht. Kaufe mit Merle einen Kindersitz fürs Auto und einen fürs Rad. Dazu einen Helm.
    Wir stehen vorm Haus. Der Fahrradsitz ist montiert.
    »Radfahren wird dir Spaß machen.«
    Sie sagt nichts. Ich will ihr den Helm aufsetzen. Sie dreht den Kopf weg.
    »Merle, bitte. Es ist gefährlich, ohne Helm zu fahren.«
    Sie schweigt.
    »Andere Kinder tragen auch Helme.«
    Sie dreht sich um. Zeigt mir zwei Kinder ohne Helme.
    »Wenn du den Helm nicht aufsetzt, fahren wir nicht Fahrrad.«
    Sie schaut mich an. Prüft sie, wie weit sie gehen kann?
    »Also, komm.«
    Sie schüttelt den Kopf. Eine neue Schweigephase? Dann geht’s gleich morgen früh wieder zum Sozialdienst.
    Ich bringe das Rad in den Keller.
    Merle scheint es nichts auszumachen, dass wir in die Wohnung zurückgehen. Sie läuft in ihr Zimmer. Macht die Tür zu.
    Ich hätte zwei Stunden arbeiten und viel Geld sparen können.

    Beim Abendbrot redet Merle wieder. Über ihre Bücher, ihre Hefte, ihre Malsachen. Diesmal schweige ich.
    Ich lege ihr eine Zahnbürste ins Badezimmer. Wenn sie sie nicht benutzen will, ist es mir egal.
    Fünf Minuten später höre ich, wie Merle sich die Zähne putzt. Ich erfahre, dass ihre Zahnbürste in Nepal rot-weiß gestreift war und die Zahnpasta nach Pfefferminzbonbons schmeckte.
    »Hast du dir regelmäßig die Zähne geputzt?«
    »Was denkst du denn?«
    »Na, wie ihr gelebt habt …«
    »Wir haben in einem schönen Haus gewohnt, bis Mama und Dave sich gestritten haben. Da mussten wir ausziehen. Und Mama hatte keine Arbeit mehr und kein Geld.«
    »Was war das für eine Arbeit?«
    »Köchin in Daves Hotel.«
    Ich erinnere mich nicht, dass Lydia jemals etwas gekocht hätte.
    »Außerdem war Mama schon krank. Deshalb hat sie sich auch mit Dave gestritten. Er wollte, dass sie zum Arzt geht. Aber Mama mag keine Ärzte. Und dann hat sie Blut gespuckt. Und Dave hat gesagt, dass sie nicht mehr in seiner Küche arbeiten darf.«
    Die Worte der Ärztin.
    »Dave war nett, viel netter als die anderen Männer.«
    »Welche anderen?«
    »Bei denen Mama sich das Geld für die Flüge nach Hamburg verdient hat.«
    Ich frage nicht weiter.
    Sie klettert in ihr Bett. Ich stelle mir vor, wie sie vor irgendwelchen Absteigen auf ihre Mutter wartet. Merles Angst, dass es ihr wieder schlechtgeht. Dass sie niemals aus diesem Loch fortkommen werden. Angst im Dunkeln, Angst vor Hunden, Angst vor Ratten.
    »Gute Nacht, Merle.« Ich streiche ihr über die Haare.
    »Nacht«, murmelt sie. »Hoffentlich schreist du nicht wieder im Schlaf.«
    An der Tür blicke ich mich um. Merles Hand liegt auf dem gepackten Schulranzen.

    Jan kommt um halb zehn. Ich kann meine Erschöpfung nicht vor ihm verbergen.
    Wir gehen ins Wohnzimmer. Ich schließe die Tür hinter mir. Der Anblick meiner Arbeitsmappen bedrückt mich.
    »Heute habe ich auch wieder nichts geschafft.«
    »Das kommt mir aber nicht so vor. Du hast beschlossen, dass Merle erst mal bei dir bleibt. Du hast eine Schule für sie gefunden …«
    »Ich meinte die Arbeit.«
    »Du siehst immer sofort neue Berge.«
    »Ich habe Termindruck. Wenn ich Professor wäre, könnte ich vielleicht auch gelassener sein.«
    »Franka …«
    »Ich muss unserem Leben hier eine Struktur geben.«
    »Wenn Merle nicht heute schon eingeschult worden wäre, hätte ich vorgeschlagen, dass wir zu dritt für eine Woche in die Provence fahren.«
    »Bist du verrückt? Lydia will ihre Tochter jeden Tag sehen. Sie würde sofort denken, ich hätte Merle entführt.«
    »Es war nur eine Idee.«
    »Fahr doch allein in die Provence.«
    Ein erstaunter Blick.
    »Ich kann in nächster Zeit nicht verreisen. Herbstferien gibt’s erst am sechsten Oktober.«
    »Ich denke drüber nach.«

    Als wir später

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