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Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Titel: Fremde Schwestern: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Ahrens
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Saint-Rémy fahre?«
    »Ich kann mich nicht zerteilen.«
    »Das verlangt auch niemand von dir. Es geht nicht um ein Entweder-oder, um Merle oder mich. Warum verstehst du das nicht?«
    »Mir wird das alles zu viel.«
    »Das Haus in Saint-Rémy ist frei«, sagt Jan und nimmt mich in die Arme. »Ein Klavier gibt es auch.«
    Dann fahr doch, denke ich.
    »Vielleicht bekomme ich für morgen noch einen Flug.«
    Beim Abschied frage ich mich, wann ich Jan wiedersehen werde.

    Ich sitze auf dem Balkon und blicke in die Dunkelheit. Was soll ich Merle sagen? Jan musste plötzlich verreisen. Einspringen für einen erkrankten Kollegen. Ein wichtiges Konzert. Oder besser noch, sein alter Vater.
    Unten auf der Straße hat sich etwas bewegt. Ein Hund oder eine große Katze. Ich beuge mich vor. Es ist ein Fuchs. Er hebt den Kopf und blickt in meine Richtung. Für einen Moment sehe ich seine gelbgrünen Augen. Dann macht er einen Satz und verschwindet lautlos im Gebüsch.

    Noch mal lesen, sage ich und zeige auf das Buch. Das Fuchs-Buch. Mutters Buch. Es war eine klare Vollmondnacht. Ein Fuchs strolchte durchs Dorf. Mutter streicht über ihren dicken Bauch. Bald bekommst du einen Bruder. Oder eine Schwester. Weiterlesen, rufe ich. Mutter schließt die Augen. Ich sehe mir die Bilder an. Der Fuchs kommt zum Brunnen und blickt hinunter. Da liegt ein großer, gelber Käse. Er springt in den Eimer und saust nach unten. Der Käse ist weg. Da ist nur kaltes Wasser. Am Himmel leuchtet der Vollmond. Der Fuchs ist gefangen. Da kommt ein Wolf am Brunnen vorbei. Der Wolf mag bestimmt auch Käse, denkt der Fuchs. Ich muss mich hinlegen, sagt Mutter. Nur noch drei Bilder, rufe ich. Später, sagt Mutter und steht auf. Das Buch nimmt sie mit.

    Auf dem Dachboden hat sich die Wärme gefangen. Die staubige Luft nimmt mir den Atem. Das Vorhängeschloss klemmt. Noch ein Versuch. Da springt es auf. Die Glühbirne wirft ein fahles Licht auf die Kammer. Niemand würde vermuten, dass sie zu meiner Wohnung gehört. Hier liegt alles drunter und drüber. Alte Stühle, blinde Spiegel, brüchige Lederkoffer, unzählige Kisten, Kartons und Plastiksäcke mit abgelegter Kleidung.
    Die Truhe habe ich nach Mutters Tod in ihrem Keller gefunden. Erst wollte ich sie zum Sperrmüll geben. Dann habe ich sie auf meinen Dachboden schaffen lassen. Ungeöffnet.
    Ich klappe den Deckel hoch. Ein Geruch nach Mottenpulver und Maiglöckchenparfum.
    Schnell blättere ich durch zwei schmale Fotoalben. Die Großeltern. Kein einziges Lächeln. Mutter als Baby, als Kleinkind, als Schülerin. Sommerurlaube am Meer und in den Bergen. Erste Schwimmversuche, erste Bergbesteigungen. Mutter als Schneewittchen in einer Schulaufführung. Mutter als Ophelia am Lübecker Stadttheater. Unsere Irmtraut am Beginn einer großen Karriere steht in einer mir unbekannten Schrift unter dem Bild.
    Ich greife nach den Zeugnissen und Urkunden. Irmtraut machte einen guten Anfang. Frei- und Fahrtenschwimmer, im selben Umschlag wie die Heiratsurkunde. Dazwischen drei Bündel mit Briefen, allesamt von der Großmutter. Vaters Unterlagen liegen in einer dunkelgrünen Mappe. Für sein juristisches Staatsexamen bekam er die Note Befriedigend. Das hat er mir nicht erzählt.
    In einer Papiertüte finde ich ein fliederfarbenes Taftkleid. Dazu eine passende Handtasche und eine Maske. Ein Karnevalskostüm. Ich halte die Tasche in der Hand. Sie kommt mir zu schwer vor. Ich öffne sie, entdecke ein kleines, schwarzes Buch. Ein Adressbuch, ist mein erster Gedanke.
    Mein Tagebuch steht in krakeligen Buchstaben oben links auf der ersten Seite. Ich erkenne die Schrift sofort.
    Franka schreibt immer Tagebuch. Da ist ein Schloss dran. Weil ich nicht lesen soll, was sie schreibt. Jetzt habe ich auch ein Tagebuch. Mama hat es mir gegeben. Es ist unser Geheimnis. Sie versteckt es in ihrer lila Tasche. Ich schreibe nur, wenn Franka nicht da ist.
     
    Ich habe wieder eine Fünf in Rechnen. Mama findet das nicht schlimm. Dafür kann ich gut tanzen. Wenn ich groß bin, werde ich Tänzerin. Papa zeigen wir die Fünf nicht. Weil er dann böse wird. Franka schreibt immer nur Einsen. Sie sagt, dass ich zu doof bin für die Schule. Stimmt aber nicht. Ich mag nur nicht rechnen.
     
    Gestern war Heiligabend. Ich habe einen Hamster gekriegt. Er heißt Mäxchen. Papa sagt, er stinkt. Das ist gemein. Mama hat sich mit Papa gestritten. Dann hat sie geweint. Und ich auch. Franka will immer den Hamster streicheln. Aber das habe ich ihr verboten. Er

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