Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
jede ein Stück nehmen, dazu ein Glas Saft, und dann macht ihr’s euch bei Ann-Kristin im Zimmer gemütlich.«
»Ich hab keinen Hunger«, murmelt Ann-Kristin.
»Unsinn«, sagt Esther, »du hattest vorhin schon Hunger, als wir den Kuchen gebacken haben.«
In ihrer Stimme liegt eine leichte Ungeduld, die ich gut an ihr kenne, und auch Ann-Kristin scheint sie zu kennen. Widerwillig nimmt sie sich ein Stück Kuchen und geht aus dem Zimmer.
»He, warte mal!«, ruft Esther.
Sie läuft ihr nach. Es fallen ein paar strenge Worte im Flur.
»Können wir bald wieder gehen?«, flüstert Merle.
Ich nicke.
Ann-Kristin fängt an zu weinen. Eine Tür wird zugeschlagen. Esther kommt ins Wohnzimmer zurück und entschuldigt sich für ihre Tochter. Sie wisse nicht, was in sie gefahren sei. Vielleicht bahne sich eine neue Trotzphase an.
»Oder sie ist böse, weil wir ihre Anziehsachen nicht mitgebracht haben«, sagt Merle.
Esther stutzt und schüttelt den Kopf. Nein, nein, das glaubt sie nicht. Ich kündige an, dass ich nachher mit dem Auto vorbeikäme, um Ann-Kristins Kleidung zurückzubringen. Wir bräuchten sie nicht mehr, weil wir Merle inzwischen eine Grundausstattung gekauft hätten.
Noch nie habe ich erlebt, dass Esther eine Situation so peinlich ist. Sie drängt uns, wenigstens ein Stück Pflaumenkuchen zu essen und etwas zu trinken. Der naturtrübe Apfelsaft sei besonders gut, und ich wolle bestimmt einen Tee. Wir bleiben noch eine Viertelstunde. Esther redet über dieses und jenes, Merle und ich sind still.
»Warum hast du gesagt, dass Ann-Kristin sich darauf freut, mich kennenzulernen?«, fragt Merle, als wir wieder im Fahrstuhl stehen.
»Weil … ich den Eindruck hatte, dass es so ist.«
»Aber genau wusstest du es nicht.«
»Nein.«
»Dann darfst du so was auch nicht sagen.«
»… Stimmt.«
Für Merle ist das Thema damit erledigt, aber ich habe die Szene bei Esther noch vor Augen, als wir längst im Krankenhaus sind und Merle auf das Zimmer ihrer Mutter zuläuft. Sie wird ihr von dem Besuch bei dieser Freundin und ihrer merkwürdigen Tochter erzählen. Und Lydia wird nachfragen und herausfinden, dass es sich um Esther handelt. Ausgerechnet Esther. Eine kleinkarierte Spießerin hat Lydia sie früher genannt. Phantasielos und bevormundend. Ich mache mich darauf gefasst, dass sie mich bitten wird, Merle künftig von Esther und ihrer Tochter fernzuhalten.
»Mama will dich sprechen.«
Ich blicke hoch. Merles Gesicht ist verschlossen.
»Wie geht’s ihr?«
»Hat sie nicht gesagt.«
Ich bringe Merle zum Stationszimmer, wo ich erfahre, dass Lydia heute Nachmittag versucht habe, mich telefonisch zu erreichen. Sie sei ganz aufgebracht gewesen, als nur der Anrufbeantworter angesprungen sei.
Ich bin auf alles gefasst. Hoffentlich liegt sie noch allein.
»Bist du besser gelaunt?«, fragt Lydia statt einer Begrüßung.
»Ich weiß nicht, was du meinst.« Erleichtert blicke ich auf das freie Bett.
»Einfach aus dem Zimmer zu laufen, nur weil dir meine Bemerkung über deinen Pianisten nicht gefallen hat.«
»Willst du Streit? Ich kann auch wieder gehen.«
Lydia schnauft einmal kurz auf. Plötzlich habe ich die Phantasie, sie könnte mich anspucken.
Ich weiche zurück und gehe ans Fenster. Betrachte Lydia aus sicherer Entfernung. Ihr Gesicht ist nicht mehr so grau. Und es kommt mir vor, als habe sie etwas zugenommen.
»Du warst heute Nachmittag nicht zu Hause«, sagt Lydia vorwurfsvoll.
»Weil ich deine Tochter von der Schule abgeholt habe. Oder dachtest du etwa, sie schafft ihren Schulweg schon allein?«
»Nein, natürlich nicht«, murmelt Lydia, »aber ich wusste nicht, dass ihre Schule bis zum Nachmittag dauert.«
Ich zucke mit den Achseln und schaue aus dem Fenster. Mir steht nicht der Sinn danach, ihr Merles Tagesablauf im Einzelnen zu erläutern.
Über uns kreist ein Hubschrauber. Ein neuer Notfall. Vor einer Woche um diese Zeit ahnte ich noch nichts von Lydias Rückkehr. Nichts von ihrer Krankheit.
Hinter mir höre ich ein Wimmern. Lydia weint.
Ich laufe zu ihr, nehme ihre Hand.
»Ich habe solche Angst«, stammelt sie, »… dass ich nicht mehr lange durchhalte … So wie meine Nachbarin …«
»Hast du mich deshalb heute Nachmittag sprechen wollen?«
Sie nickt.
»Die Ärztin hat mir gestern gesagt, dass du auf die Medikamente gut reagierst und sich deine Laborwerte stabilisiert haben. Außerdem wärst du ruhiger und hättest besser geschlafen.«
»Ich habe vorhin einen schrecklichen
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