Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
Macht in die Wohnung. Es entsteht ein Handgemenge. Die Tür fällt zu. (Schnitt)
In der nächsten Szene liegt Herr Cordes tot am Boden, in einer Lache aus Blut und Whiskey. Neben ihm eine zerschlagene Flasche. Das Baby ist verschwunden. Aus dem Fenster der Erdgeschosswohnung sieht man Leontina mit einem Bündel unter dem Arm davonlaufen. Frau Cordes starrt auf ihren Mann. Dann ruft sie, wie in Trance, die Polizei.
Hat Leontina Herrn Cordes erschlagen, oder war es Frau Cordes, die natürlich nicht ihren Mann, sondern Leontina treffen wollte? Vielleicht hat in dem Handgemenge plötzlich eine der Frauen eine Flasche in der Hand gehabt. Das Entscheidende ist, dass ich es beiden zutrauen würde, Gewalt anzuwenden, um an das Kind zu kommen, beziehungsweise es nicht hergeben zu müssen. In dem Moment fällt mir auch ein Titel für den Film ein: Mutterfreuden.
Ich lehne mich zurück, schließe die Augen. Mein Mund ist trocken, als hätte ich gerade eine Prüfung abgelegt. Die bekannte Aufregung, wenn ich weiß, dies ist der Weg in die Geschichte hinein. Aber das ist nicht alles. Mir kommt es vor, als gäbe es diese Figuren wirklich. Wie wäre mir zumute, wenn ich Merle wieder hergeben müsste? Bin ich ihr schon so nah?
Manchmal gehen wir nach der Schule schwimmen. Im Freibad ist es gerade noch warm genug. Merle würde es auch nichts ausmachen, wenn es kälter wäre. So abgehärtet wie sie ist. Mühelos gleitet sie durchs Wasser, krault, taucht, springt. Wo sie schwimmen gelernt habe, frage ich sie. In dem warmen, grünblauen Meer, an dem sie früher gewohnt hat. Ich stelle mir vor, wie sie an einer südafrikanischen oder indischen Küste im Wasser herumpaddelt und eines Tages merkt, dass es sie trägt. Wie überrascht sie ist und wie stolz, es allein geschafft zu haben. Das ist natürlich eine Unterstellung. Vielleicht hat Lydia Wochen damit zugebracht, es ihr beizubringen. Aber ich sehe Lydia eher mit Jeff oder sonst wem am Strand in der Sonne liegen, darauf vertrauend, dass Merle nichts passieren wird. Auch wenn es Haie und gefährliche Strömungen in jenen Breitengraden gibt.
Ob Merle genug an die frische Luft käme, fragt Lydia mich eines Tages, als wir gemeinsam über den Stationsflur laufen. Sie sei es nicht gewohnt, stundenlang in engen Wohnungen und stickigen Klassenzimmern zu hocken. Ich hole tief Luft, versichere ihr, dass ich tue, was ich könne.
Ich lasse mich von ihr nicht mehr provozieren. Ihr Ton hat mir gegenüber an Schärfe verloren. Es herrscht Waffenstillstand zwischen uns, auch wenn keine der anderen traut. Es kommt mir vor, als habe Lydia aufgehört, einen Keil zwischen Merle und mich treiben zu wollen.
Ihr Zustand ist stabil. Die Ärztin hat mit ihr über eine Lebertransplantation gesprochen. Lydia ist bereit, einen Behandlungsvertrag zu unterschreiben. Stichproben und Kontrolluntersuchungen scheue sie nicht, weil sie seit Beginn ihrer Schwangerschaft keine Drogen mehr nehme. Einer psychologischen Betreuung habe sie ebenfalls zugestimmt, erfahre ich von der Ärztin. Vielleicht sei sie sogar erleichtert, dass ihr so etwas angeboten werde. Das bleibt abzuwarten. Wird sie es tun? Über Ursachen und Verlauf ihrer Sucht sprechen. Über ihre soziale Situation in Nepal. Die Männer. Die Absteigen. Merle.
Ein bis anderthalb Jahre warten. Unterbringung in einer Wohngruppe. Lydias Entsetzen. Niemals. Sie habe eine Tochter zu versorgen. Die brauche ein richtiges Zuhause. Was hat sie sich vorgestellt? Meine Wohnung? Gespräche zwischen mir und der Ärztin, dem Sozialdienst, dem Jugendamt. Sie würde es physisch und psychisch nicht schaffen, nach ihrer Entlassung für ihre Tochter verantwortlich zu sein, sagt die Ärztin zu Lydia.
Nach diesem Gespräch will Lydia mich drei Tage nicht sehen. Vermutet eine Verschwörung. Man will ihr die Tochter wegnehmen. Sie droht, das Essen zu verweigern, wenn Merle nicht künftig bei ihr wohnen dürfe.
Meine Vision: Lydias Verfassung verschlechtert sich rapide. An eine Operation ist nicht mehr zu denken. Ich ignoriere die aufgeregten Nachrichten der Krankenschwester auf meinem Anrufbeantworter. Als der erlösende Anruf kommt, kann ich meine Erleichterung kaum verbergen. Das Ende eines vergeudeten Lebens, denke ich und bedanke mich für die Beileidsworte.
Lydia beschließt, ihren Widerstand aufzugeben und spricht mit mir, als sei nichts gewesen. Nach der dreitägigen Besuchspause fällt mir auf, wie sehr sie sich schon erholt hat. Ihr Gesicht ist nicht mehr grau und
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