Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
schnelle Entscheidung. So ist das manchmal mit Jan.«
Merle liegt schon im Bett, als Jan anruft. Er will wissen, wie es uns geht. Ich sage nichts von Merles Enttäuschung. Lasse mir beschreiben, wie er wohnt. Ein altes Steinhaus. Ein verwilderter Garten. Die Abgeschiedenheit. Das Klavier in besserem Zustand als erwartet. Er arbeitet an einer neuen Komposition. Morgens war er in Saint-Rémy auf dem Markt. Ein schöner Ort. Zum Abschied Grüße an Merle. Er vermisst mich. Ich vermisse ihn auch. Sage es nicht.
Merle fragt nicht mehr nach Jan. Und sie malt keine Noten mehr. Einmal bittet Jan mich, Merle ans Telefon zu holen. Sie kommt zögernd, erzählt ihm nichts, sagt nur ja oder nein.
Merle geht gern in die Spielgruppe. Da können Jan und Esther noch so viele Bedenken haben. Seit jenem verunglückten Nachmittag hat es mit Ann-Kristin kein Treffen mehr gegeben. Merle konzentriert sich auf ihre Freundschaft mit Elisa. Und ich arbeite täglich mindestens sieben Stunden. Wenn ich laufe, setze ich mich abends wieder an den Schreibtisch. Erfülle mein Pensum.
Nach einem meiner Läufe weiß ich plötzlich, wie die Geschichte verlaufen könnte. Bisher habe ich Täter und Opfer säuberlich getrennt, hier die gewissenlosen Babyhändler, dort die Frauen, denen die Babys weggenommen werden. Eine Schwarzweiß-Konstruktion, die nicht genug Spannung in sich birgt. Die einzig interessante Grauzone wird durch jene kinderlosen Paare gebildet, die am Ende ohne Baby dastehen und sich auch noch strafbar gemacht haben.
Der Täter müsste auch ein Opfer sein. Oder die Täterin. Eine junge Rumänin in Deutschland, die nach einer Vergewaltigung ein Kind erwartet. Für ihren Vater ist ihre Schwangerschaft eine Schande. Monatelang sperrt er sie in der Wohnung ein. Sie will eine Abtreibung, aber so etwas ist für ihn als Mitglied der orthodoxen Kirche undenkbar. Eines Tages erfährt er von einem Mann, der Babys sucht, um sie weiterzuverkaufen. Geld ist bei ihnen zu Hause knapp. Die Putzjobs, die seine Frau und seine Tochter haben, bringen kaum genug Geld für das Nötigste ein. Er selbst hat seit Jahren nicht mehr gearbeitet. Als der Mann ihm fünftausend Euro für das Baby anbietet, zögert er nicht. Nach der Geburt sieht seine Tochter ihr Kind nur ein paar Minuten lang, dann wird sie bewusstlos.
Leontina werde ich sie nennen, die junge Rumänin, die beinahe wahnsinnig wird, als sie begreift, dass man ihr das Kind weggenommen hat. Niemals wird sie sich mit ihrem Schicksal abfinden; da hat sich ihr Vater gründlich getäuscht. Sobald sie sich etwas erholt hat, macht sie sich auf die Suche nach ihrem Baby. Sie weiß von dem Babyhändler, findet schließlich die Firma, von der aus er seine Import-Export-Geschäfte abwickelt, und gelangt durch einen Einbruch an die Adresse des Ehepaars, das ihr Baby gekauft hat. Cordes ist ihr Name, sie wohnen in einer Gegend, in der Leontina noch nie gewesen ist.
Die Cordes sind Mitte vierzig. Er ist Fotograf, sie Bildhauerin. Seit zwanzig Jahren sind sie ein Paar. Die beiden verbindet eine große, leidenschaftliche Liebe. Sie vertrauen und respektieren sich, sind bedingungslos füreinander da.
Ich lehne mich zurück. Gibt es so etwas überhaupt? Zwei Menschen ohne Vorbehalte? Nicht mal ein Hauch von Skepsis, weder bei ihm noch bei ihr?
In meiner Geschichte wird es das geben. Selbst der unerfüllte Kinderwunsch hat die Cordes über all die Jahre nicht entzweien können. Im Gegenteil, die Sehnsucht nach einem Kind hat sie noch enger zusammengeschweißt. Und jetzt sind sie am Ziel ihrer Wünsche: Sie haben ein Baby. Ihr Glück ist vollkommen. Die Art und Weise, wie sie an dieses Baby gelangt sind, möchten sie schnell vergessen.
Aber vielleicht ist das alles nur der Hintergrund meiner Geschichte, vielleicht werde ich ganz anders beginnen, mit einer Szene, die direkt ins Geschehen führt: Eine edle Hamburger Altbauwohnung. Früher Abend. Herr Cordes sitzt im Sessel und liest Zeitung. Seine Frau kommt, ein Wiegenlied summend, mit dem Baby im Arm ins Zimmer. In dem Moment klingelt es an der Wohnungstür. Beide sind überrascht. Herr Cordes geht zur Tür, seine Frau bleibt im Zimmer hinter ihm stehen und summt weiter, um das Baby in den Schlaf zu wiegen. Herr Cordes öffnet und steht Leontina, einer sehr jungen, ärmlich gekleideten Frau, gegenüber, die hervorstößt: Ich will mein Kind zurück! Frau Cordes schreit auf, ihr Mann will die Tür schließen und ruft: Verschwinden Sie! Doch Leontina drängt mit
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