Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
den Arm gespritzt hat?«
»Ich glaube schon.«
»Mir hat Mama noch nie was von den Drogen erzählt.«
Mich trifft ein strenger Blick.
»Vielleicht will sie damit warten, bis du größer bist.«
»Wieso?«
»Weil du’s schon schwer genug hast.«
»Und warum hast du mir davon erzählt?«
»Ich wollte es dir nicht sagen, aber … dann habe ich einen Moment lang nicht aufgepasst, und schon war es raus … Ich wünsche, du könntest es wieder vergessen.«
Merle schüttelt den Kopf. »Ich verrat’s Mama nicht. Sonst ist sie wieder böse mit dir.«
Es kann nicht gut sein für ein Kind, immer abwägen zu müssen, was es sagen darf und was nicht. Wer weiß, was Merle mir alles nicht sagt. Lydia wird ihr Geschichten von früher erzählt haben. Wie bösartig ich sei. Dass ich vor lauter Neid ihre Kartoffeln aus der Erde gerissen und in den Kanal geworfen hätte.
»Es geht Mama schon viel besser, oder?«
»Ja.«
»Vielleicht muss sie nicht operiert werden.«
»Doch. Sie ist nicht mehr so krank wie vor einem Monat, aber ihre Leber wird nicht wieder gesund. Mit einer kaputten Leber kann man auf die Dauer nicht leben. Deshalb braucht sie eine neue.«
»Und wann kriegt sie die?«
Ich erkläre ihr, wie es sich verhält mit Spenderlebern. Natürlich hat Merle nicht gewusst, dass man ihrer Mutter die echte Leber eines kurz zuvor verstorbenen Menschen einpflanzen wird und dass nicht jede Leber zu jedem Menschen passt.
Merles Finger wandern nicht mehr über die Schale, sondern verschwinden in ihrem Schoß. Ich hätte sie mit diesen Details verschonen sollen.
»Elisa sagt, jeder hat einen Vater.«
Auf diesen Themenwechsel bin ich nicht vorbereitet. Merles Augen fixieren mich. Sie wird nicht lockerlassen.
»Es gibt Menschen, die ihren Vater nicht kennen … Manchmal weiß eine Mutter auch nicht, wer der Vater ihres Kindes ist.«
»Trotzdem muss er irgendwo sein.«
»Ja.« Von der Möglichkeit einer künstlichen Befruchtung werde ich Merle nichts erzählen. Die Dinge sind so schon kompliziert genug.
»Elisa hat mich gefragt, wo mein Vater ist.«
»Und was hast du ihr geantwortet?«
»Dass ich’s nicht weiß. Vielleicht ist er in Indien geblieben oder in Südafrika.«
Ob Lydia Merle gegenüber jemals das wiederholen wird, was sie mir geantwortet hat? Ich wollte ein Kind, keinen Ehemann. Es gibt keinen Vater, weil es keinen geben sollte.
»Elisa vermisst ihren Papa, ich aber nicht. Ich kenn ihn ja nicht. Als ich Mama mal gefragt habe, wo er ist, ist sie böse geworden. Sie hat gesagt, dass ich keinen Vater brauche, weil ich sie ja habe. Und dass sie mich liebhat. Und dass ich mehr Liebe bekomme als andere Kinder, die eine Mutter und einen Vater haben.« Merles Lippen zittern. »Kennst du ihn?«
»Nein, Merle, leider nicht.«
Tränen laufen über ihre Wangen. Ich stehe auf und nehme sie in die Arme.
»Elisa sagt, dass es gut wäre … wenn ich einen Papa hätte … weil … wenn mit Mama was passiert …«
»Hat Merle geweint?«, fragt Lydia abends.
Sie sitzt auf ihrem Stuhl, in einem der dunkelblauen Trainingsanzüge, die ich ihr gekauft habe und regelmäßig für sie wasche. Zum Glück ist sie allein.
Ich vergewissere mich, dass Merle im Stationszimmer verschwunden ist, und schließe die Tür.
»Sie wollte heute von mir wissen, ob ich ihren Vater kenne.«
Lydias Kopf schießt nach vorn. »Kannst du keine Ruhe geben? Willst du Merle unbedingt gegen mich aufbringen?«
»Ich habe das Thema nicht angeschnitten. Es war ihre Freundin Elisa, deren Eltern geschieden sind. Sie hat zu Merle gesagt, dass jeder einen Vater hat.«
»Was geht das diese Elisa an?«, zischt Lydia und versenkt ihre Hände in den Taschen ihres Trainingsanzugs.
Wann immer ich ihr anbiete, ihr etwas anderes zum Anziehen zu besorgen, winkt sie ab. Ob ich sie etwa so einkleiden will, wie ich selbst herumlaufe, sportlich-elegant, oder wie man das nennt?
»Du wirst Merle eines Tages sagen müssen, dass du nicht weißt, wer ihr Vater ist. Sie hat ein Recht darauf, wenigstens das zu erfahren.«
»Mit sieben braucht sie so was noch nicht zu wissen.«
»Die Frage beschäftigt sie offenbar.«
»Muss sie unbedingt mit dieser Elisa spielen? Es gibt doch genug andere Kinder, deren Eltern nicht geschieden sind.«
»Die beiden waren vom ersten Tag an unzertrennlich. Dabei hat die Frage von geschiedenen Eltern oder alleinerziehenden Müttern keine Rolle gespielt.«
Lydia schweigt. Dafür bin ich ihr dankbar. Sonst wäre ich vielleicht
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