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Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Titel: Fremde Schwestern: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Ahrens
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hager wie vor ein paar Wochen. Sie hat genug Kraft, um zu duschen, sich allein anzuziehen.
    Ich bringe ihr Bücher mit. Lydia liest jeden Tag stundenlang, am liebsten Kriminalromane. Ich hatte gedacht, sie würde Bücher dieser Art verachten.
    Zwei ältere Frauen liegen jetzt in ihrem Zimmer. Alkoholikerinnen, sagt Lydia und rümpft die Nase. In ihren Augen ist eine Trinkerleber offenbar etwas prinzipiell anderes, Schlechteres, als eine durch Drogen zerstörte Leber. Ich erörtere diese Frage nicht mit ihr. Verzichte überhaupt auf Erörterungen jeglicher Art.

    Nicola, Esthers Babysitter, kommt jetzt auch zu uns. Warum, fragt Merle. Ich erkläre ihr, dass ein Kind in ihrem Alter nicht allein bleiben solle. Sie könnte sich fürchten und falls etwas passiert. Was denn passieren solle, fragt Merle. Ein Wasserrohrbruch oder ein Brand, alles nicht sehr wahrscheinlich, aber auch nicht unmöglich. Sie sei schon oft allein gewesen, murmelt Merle und presst das Äffchen an sich.

    »Seit wann ist Jan in der Provence?«, fragt Esther, als wir uns eines Abends zum Essen treffen.
    »Seit über drei Wochen. Er kommt demnächst wieder.«
    »Telefoniert ihr wenigstens regelmäßig?«
    »Ja.«
    Ich wechsele das Thema, erzähle Esther von der Wohngruppe und Lydias Protest.
    »Wirst du eine größere Wohnung suchen? Zu zweit wird es bei dir auf die Dauer etwas eng, oder?«
    »Ein Umzug hat mir gerade noch gefehlt.«
    »Du verdienst doch mit deinen Drehbüchern mehr als genug. Wahrscheinlich hast du bald so viel gespart, dass du dich zur Ruhe setzen kannst.«
    »Unsinn.«
    »Wovon wird Lydia eigentlich leben?«
    »Von der Sozialhilfe.«
    »Und in welchem Stadtteil wird man sie unterbringen?«
    »Keine Ahnung.«
    Esther sieht mich schweigend an. Ich weiß genau, was sie jetzt denkt. Ob ich es mit meinem Gewissen vereinbaren kann, meine Schwester in Wilhelmsburg oder Horn wohnen zu lassen, während ich mit Merle in Alsternähe lebe.
    »Ich kann sie nicht bei mir aufnehmen, falls du das vorschlagen willst. Auch nicht, wenn ich eine größere Wohnung hätte.«
    »Hast du nicht neulich gesagt, dass Lydia nicht mehr so aggressiv ist?«
    »Ja, aber wir sehen uns nur im Krankenhaus. Im Moment gibt es keine Probleme. Selbst Lydia kann nicht leugnen, dass Merle sich bei mir gut eingelebt hat. Aber ich garantiere dir, sobald sie bei uns einziehen würde, gäbe es sofort wieder Streit.«
    »Oder du ziehst mit Merle zu Jan und überlässt Lydia deine Wohnung.«
    »Jan und ich können nicht zusammenleben.«
    »Wieso nicht? Nach gut vier Jahren müsste doch allmählich ein Punkt kommen …«
    »Esther, hör auf!«
    »Du könntest es wenigstens versuchen. Mit jemandem wie Jan …«
    »Es geht nicht. Und jetzt möchte ich nicht mehr darüber reden.«
    Esther zieht die Augenbrauen hoch, als wolle sie sagen, dass ich selbst schuld sei, wenn auch diese Beziehung wieder zerbricht.
    Ich verschwinde auf die Toilette.
    Den Rest des Abends sprechen wir über Esthers Arbeit im Verlag, über mein neues Exposé, das große Zustimmung bei der Redakteurin gefunden hat, und über Merle, die fließend Englisch kann, wie Frau Rathjens mir neulich erzählt hat.
    »Was machst du, wenn Merle irgendwann zu ihrer Mutter zurückkehrt?«
    Ich schweige.
    »Wer weiß, ob es dazu kommt.«

    In der Nacht finde ich ein Bild auf meinem Schreibtisch. Es zeigt ein dünnes, dunkelhaariges Mädchen mit einem Stoffaffen im Arm. Merle Daniels, 7 Jahre steht unten rechts in der Ecke.

20.
    J an hat mir eine bemalte Keramikschale mitgebracht.
    »Wann musst du Merle abholen?«
    »In knapp zwei Stunden.«
    »Sie war sehr wortkarg am Telefon.«
    »Vielleicht hat sie zu oft erlebt, dass die Freunde ihrer Mutter verreisen und nicht wiederkommen.«
    Er zieht mich näher zu sich heran. Wochenlang schien mir ein Leben ohne Jan so viel einfacher. Wochenlang habe ich meine Sehnsucht nach dieser Nähe nicht gespürt.

    Merles Finger wandern über die grün-gelb-blauen Schlingen auf der Keramikschale. Eine ungewöhnliche Wahl für Jan. Er bevorzugt sonst strenge Formen.
    »Schöne Farben sind das.«
    »Jan hat die Schale aus Südfrankreich mitgebracht.«
    »Er ist wieder da?« Merles Augen leuchten. »Ich dachte, ihr hättet euch gezankt.«
    »Wir haben fast jeden Tag telefoniert.«
    »Trotzdem …«
    Wir schweigen.
    »Wann gehen wir zu Mama?«
    »Um sechs.«
    »Redet sie heute wieder mit der Frau über früher und warum sie so krank ist?«
    »Ja.«
    »Sagt sie ihr auch, dass sie sich Drogen in

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