Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
durchgeführt. Wenn sich ihr Befinden plötzlich verschlechtern sollte, wird sie natürlich vorher wieder eingewiesen.«
»Steht schon fest, an welchem Tag sie entlassen wird?«
»Wahrscheinlich am Dienstag. Die tägliche Versorgung übernimmt eine ambulante Pflegeorganisation.«
»Wo wird sie wohnen?«
»In einer Wohngruppe in Winterhude.«
Ich atme auf. Winterhude ist in der Nähe, da kenne ich mich aus.
Wegen Winterhude wird Merle nicht anfangen, mich zu hassen.
»Was die Einzelheiten angeht, sprechen Sie am besten mit der Sozialarbeiterin.«
Vor ein paar Tagen, auf dem Flur, als Lydia sich bei mir untergehakt hat. Wollte sie sich bei mir einschmeicheln? Hofft sie darauf, dass ich sie im letzten Moment bitten werde, zu Merle und mir zu ziehen?
Der Weg zum Sozialdienst. Ich denke an den ersten Tag. Jan und Merle. Jeder mit einem Eis in der Hand.
»Ihre Schwester hat die Nachricht sehr ruhig aufgenommen«, sagt die Sozialarbeiterin. »Sorgen macht sie sich nur um ihre Tochter.«
»Ich auch. Sie wird es nicht hinnehmen, dass ihre Mutter woanders wohnt.«
»Lassen Sie uns gemeinsam mit ihr sprechen. Und falls es in Zukunft Probleme geben sollte, können Sie sich an das zuständige Jugendamt wenden.«
Kurz nach vier. Ich warte auf Merle. Werde immer nervöser. Sie wird mich für hartherzig halten.
Bevor ich sie sehe, höre ich ihr Lachen. Ich fände es unerträglich, dieses Lachen nicht mehr zu hören.
Auf dem Weg zum Krankenhaus erzählt Merle mir von der Schule, von der Spielgruppe, von Elisa, die gestern Besuch von ihrem Papa bekommen hat.
Nicht auch noch ein Gespräch über Väter.
»Was ist?«, fragt Merle.
»Nichts …«
Sie sieht mich an, glaubt mir nicht. Heute mache ich alles falsch.
»Freust du dich auf die Herbstferien?«, frage ich schließlich.
»Ich weiß nicht. Elisa fährt weg. Die ganze Zeit.«
»Wohin?«
»Nach Spanien.«
Ich hatte auf Verabredungen gehofft. Mein Arbeitspensum. Besuche bei Lydia. Zeit für Jan.
Die Sozialarbeiterin hat Übung im Umgang mit schwierigen Situationen. Sie erklärt Merle, dass ihre Mutter mit etwas Hilfe jetzt auch außerhalb des Krankenhauses auf eine neue Leber warten könne. Aber sie schaffe es nicht, für ein Kind zu sorgen. Deshalb sei es besser, wenn Merle vorerst bei mir bleiben würde.
»Kann Mama nicht bei uns wohnen?«, fragt Merle und sieht mich bittend an. »Wir haben doch Platz genug.«
»Das geht leider nicht«, höre ich die Sozialarbeiterin sagen, während ich noch über eine Antwort nachdenke. »Deine Mutter braucht sehr viel Ruhe. Und die hätte sie mit euch zusammen in einer Zweizimmerwohnung nicht. Deine Tante arbeitet ja auch zu Hause. Aber du wirst deine Mutter so oft wie möglich sehen.«
Merles Fragen.
Wie lange ihre Mama auf die Operation warten muss. Ob sie danach wieder mit ihr zusammenwohnen darf. Ob ihre Mama und sie auch eine Wohnung bekommen, wenn sie kein Geld haben. Ob die Wohnung in der Nähe von Tante Frankas Wohnung sein wird.
Die Sozialarbeiterin zögert. »Das kann ich dir nicht versprechen …«
»Und wenn sie woanders ist, muss ich dort in die Schule gehen?«
Die Sozialarbeiterin blickt mich kurz an. Wundert sich über dieses Kind, das den Dingen auf den Grund geht.
»Mach dir darüber jetzt keine Sorgen. Warten wir erst mal die Zeit bis zur Operation ab.«
Wir verabschieden uns. Merle ist den Tränen nah. Ich weiß nicht, was sie mehr beschäftigt, der Gedanke an einen Schulwechsel oder die Ankündigung, dass ihre Mutter nicht bei uns wohnen wird.
Wir stehen im Fahrstuhl. Merle tritt mit dem Fuß gegen die Wand.
»Mama mag diese Wohngruppe bestimmt nicht!«
»Ich glaube, sie wird vor allem froh sein, nicht mehr im Krankenhaus zu liegen.«
»Und wenn sie unglücklich ist?«
»Dann versuchen wir, eine andere Unterkunft für sie zu finden. Das verspreche ich dir. Aber bei uns kann sie nicht wohnen.«
»Weil du Angst hast, dass ihr euch zankt.«
»Ja. Wir haben uns früher gegenseitig so weh getan, dass wir das nicht vergessen können.«
»Warum?«
»Das ist eine schwierige Geschichte … Deine Mutter und ich sind so verschieden … Und es gab viele Probleme mit den Eltern …«
»Hat Oma Mama lieber gemocht als dich?«
»Ja … Hat deine Mutter dir das gesagt?«
»Nein. Auf dem Foto sah es so aus.«
»Sie waren sich sehr ähnlich. Vielleicht deshalb. Oma war Schauspielerin, und deine Mutter wollte Tänzerin werden. Leider war Oma auch viel krank und konnte sich nicht um deine
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