Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
Zopfmuster. Er passt ihr genau. Schön sei der, sagt sie leise, schöner als alle Pullis, die sie bisher gesehen habe.
Jan öffnet eine Flasche Rotwein, schenkt uns ein. Merle bekommt Orangensaft.
»Ich habe dir ein paar alte Bilderbücher von Gregor herausgesucht«, sagt Jan. »Vielleicht hast du Lust, sie dir anzugucken.«
Merle nickt, setzt sich an den Esstisch, beginnt in einem Buch zu blättern. Immer wieder blickt sie zum Flügel hinüber. Sie fragt nicht.
Jan erzählt von Saint-Rémy.
Auch er bemerkt Merles Blicke. Ich sehe, wie er mit sich kämpft.
»Wenn du’s dir so sehr wünschst …«, unterbricht er sich plötzlich selbst.
Merle schaut ihn überrascht an. »Darf ich spielen?«
»Aber erst Hände waschen.«
Sie springt auf, läuft mit ihm ins Bad, kommt strahlend ins Wohnzimmer zurück.
Jan dreht die Klavierbank einige Umdrehungen höher und lässt Merle Platz nehmen. Er zeigt ihr, wie er die Tasten anschlägt. Nicht mit flachen, sondern mit leicht gebeugten Fingern.
Merle schaut ihm aufmerksam zu. Versucht, es ihm nachzumachen. Ihre ersten Töne klingen zaghaft. Dann wird sie mutiger. Jan korrigiert sie ein paarmal. Es fällt ihr nicht schwer, seinen Hinweisen zu folgen.
Sie beginnt, sich eine Melodie zusammenzusuchen. Ihr kleines Gesicht ist so konzentriert wie bei keiner anderen Tätigkeit.
Ich habe es noch nie erlebt, dass sich jemand so zu einem Instrument hingezogen fühlt. Wenn ich mehr Platz in meiner Wohnung hätte, würde ich mich sofort nach einem alten Klavier umsehen.
Wir gehen in die Küche, beginnen mit dem Kochen. Jan hat Gemüse für ein Ratatouille eingekauft. Die Kräuter vom Markt in Saint-Rémy duften nach einer Landschaft, in der ich in den letzten Wochen auch gern gewesen wäre.
»Merle sollte Unterricht bekommen.«
»Hättest du Zeit, ihr Stunden zu geben?«
Er schüttelt den Kopf. »Ich werde mich umhören. Sie braucht natürlich ein Klavier, um zu üben.«
Wir schneiden Gemüse, salzen die Auberginen, braten Zwiebeln und Knoblauch in Olivenöl an.
Plötzlich steht Jan auf und geht ins Wohnzimmer. Er muss etwas gehört haben, was mir entgangen ist.
Ich folge ihm bis in den Flur. Durch die halbgeöffnete Tür sehe ich, wie er sich einen Stuhl holt und sich neben Merle setzt. Er bittet sie, zu wiederholen, was sie eben gespielt hat. Merle braucht nicht lange, um die richtigen Tasten zu finden. Eine sehnsüchtige Melodie. In mir zieht sich etwas zusammen.
»Wo hast du diese Töne gehört?«, fragt Jan. »In Nepal?«
»Nein. In Indien. Mein Freund Bakul hat sie auf der Flöte gespielt. Damit seine Kobra tanzt.«
»Du hattest einen Freund, der Schlangenbeschwörer war?«
»Ja.«
»Und mochte die Kobra diese Melodie?«
»Sie hat immer schön dazu getanzt.«
»Hattest du Angst vor ihr?«
»Nein. Wieso?«
»Ich habe Angst vor Schlangen.«
Merle spielt noch einmal Bakuls Melodie. Jan fügt Akkorde für die linke Hand hinzu.
Ich gehe zurück in die Küche, fahre mit dem Kochen fort, im Hintergrund die orientalischen Klänge. Knapp fünf Wochen sind seit Lydias Rückkehr vergangen. Vielleicht wird sich doch alles von selbst finden.
Wir fahren nach Hause. Merle ist müde, aber glücklich. In ihren Händen hält sie ein Notenheft. Darin hat Jan die Noten für ihre Melodie notiert.
»Ich finde Jan nett«, murmelt Merle.
Als müsse sie jemandem widersprechen, der das Gegenteil behauptet hat.
»Dein Pianist hat großen Eindruck auf Merle gemacht«, sagt Lydia zwei Tage später. »Nun will sie Klavierspielen lernen. Gibt’s in der Schule ein Klavier?«
Daran habe ich bisher nicht gedacht. »Ich werde mich nach den Herbstferien erkundigen.«
»Herbstferien?«, fragt Lydia.
Ich nicke. »Ab heute gibt es zwei Wochen Ferien.«
»Davon hat Merle mir nichts erzählt.«
Ich sehe ihr an, dass sie darüber nachdenkt, was ihr sonst noch entgangen sein könnte.
Auf dem Flur begegne ich der Krankenschwester. Sie bittet mich, ins Arztzimmer zu kommen. Jetzt ist es so weit, schießt es mir durch den Kopf.
»Ihre Schwester wird in der nächsten Woche bis auf weiteres entlassen«, erklärt mir die Ärztin. »Sie ist mittlerweile in der Lage, zu Hause auf eine Spenderleber zu warten.«
Weiß Lydia es schon? Und wenn ja, warum hat sie mir nichts davon gesagt?
»Sie erhält ein sogenanntes Eurosignal. Das wird sie immer bei sich tragen. Wenn der entscheidende Anruf kommt, muss sie sich sofort in die Klinik begeben. Zwischendurch werden regelmäßig Untersuchungen
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