Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
Mutter kümmern.«
»Und Opa?«
»Der hat fast immer gearbeitet.«
»Mama hat mir nie von Opa erzählt.«
»Sie haben sich nicht verstanden.«
»Hat Opa dich lieber gehabt?«
»Ich war gut in der Schule. Das war ihm wichtig.«
»Auf dem Foto mochte ich ihn nicht.«
Ich habe vergessen, rosa Schleifen zu kaufen. Vielleicht lasse ich es. Für Lydia wäre es eine Provokation.
Seit einer halben Stunde ist Merle im Zimmer ihrer Mutter. Ich bin auf alles gefasst.
»Wir haben gehört, dass Ihre Schwester entlassen wird.«
Vor mir stehen die zwei älteren Frauen aus Lydias Zimmer.
»Sie soll ja wohl in eine Wohngruppe ziehen.«
Ich nicke, will weitergehen.
»Wär’s für Ihre Nichte nicht besser, wenn Sie Ihre Schwester bei sich aufnehmen würden?«
»Dann wären Mutter und Tochter wenigstens wieder zusammen.«
»Mischen Sie sich nicht in Dinge, die Sie nichts angehen.«
Ich weiß nicht, wie Lydia es seit Wochen erträgt, mit diesen Frauen in einem Zimmer zu schlafen.
Lydia und Merle kommen gemeinsam auf den Flur. Sie lachen.
So schlimm kann es nicht sein.
»Spiel eine Runde Quartett«, sagt Lydia und gibt Merle einen Kuss.
Sie hakt sich bei mir unter. Wir warten, bis Merle im Stationszimmer verschwunden ist.
»Endlich werde ich hier rauskommen. Ich habe oft nicht mehr daran geglaubt.«
Unwillkürlich drücke ich Lydias Arm. Unsere Blicke treffen sich.
Ich sehe das Erstaunen in ihren Augen.
»Ich habe meinem Körper nicht mehr getraut. Die Angst ist natürlich nicht weg. Wenn ich an die Operation denke … Hast du gewusst, wie lange man auf eine Spenderleber warten muss?«
»Nein.«
»Merle war entsetzt.«
»Ich auch.«
Wir schweigen. Ich schaue auf das Muster im Fußboden. Die Wohngruppe.
»Was sagst du zu Winterhude?«
»Ich bin erleichtert, weil es nicht so weit weg ist.«
»Ein gutbürgerliches Wohnviertel. So was habe ich noch nie gemocht.«
»Wäre dir Wilhelmsburg lieber gewesen?«
»Da war ich noch nie.«
»Keine schöne Gegend, das kannst du mir glauben.«
»Ich bin gespannt, in was für einer Wohngruppe sie mich unterbringen werden.«
Gleich wird sie mich fragen.
»Du weißt, dass ich nicht besonders anspruchsvoll bin. Ich freue mich auf meine eigenen vier Wände. So was hatte ich schon lange nicht mehr. Nur Merle wird mir fehlen.«
»Ja, aber die Sozialarbeiterin hat dir erklärt, warum …«
»Natürlich hat sie das«, unterbricht Lydia mich. »Es leuchtet mir trotzdem nicht ein.«
»Hast du Merle das auch gesagt?«
»Nein, ich dachte, das sage ich ihr besser nicht.«
Lydia lächelt mich an, der spöttische Zug um ihren Mund herum ist fast verschwunden.
Ich lächele zurück.
22.
M erle sitzt am Küchentisch. Sie hat den Hamburger Stadtplan vor sich ausgebreitet.
»Guten Morgen, Merle.«
Sie blickt nicht auf.
Ich beginne, mir einen Kaffee zu kochen.
»Suchst du den Stadtteil, in dem deine Mutter wohnen wird?«
Keine Antwort.
»Du kannst die Namen auf dem Plan doch noch gar nicht lesen. Soll ich dir zeigen, wo Winterhude liegt?«
»Bestimmt weit weg!«, platzt es aus Merle heraus.
»Nein. Guck mal … wir wohnen hier, und da fängt Winterhude an.«
»Ich finde es gemein, dass Mama in diesem Winterhude wohnen soll.«
»Wir werden sie oft besuchen und sie auch hierherholen.«
»Warum kann ich nicht mit ihr zusammenwohnen?«
»Merle, deine Mutter würde es nicht schaffen, dich zu versorgen.«
»Und wenn ich ihr ganz viel helfe? Ich kann abwaschen und abtrocknen, und Brote schmieren kann ich auch.«
»Sie ist noch zu schwach. Sie kann zwar aufstehen und herumlaufen, aber sie wird schnell müde und muss sich ausruhen. Sie kann dich nicht zur Schule bringen, wieder abholen, einkaufen, kochen, Wäsche waschen, putzen …«
»Putzen ist nicht so wichtig, sagt Mama immer.«
»Merle, es geht nicht.«
»Weil du dagegen bist!«
»Das ist nicht wahr.«
»Du bist immer gegen sie gewesen.«
»Merle, jetzt wirst du ungerecht. Und das weißt du auch.«
»Mama hat gesagt, dass du ihr so oft weh getan hast. Einmal hast du sogar ihre schönen Kartoffeln aus der Erde gezogen und in den Fluss geworfen.«
Ich zucke zusammen. »Das war schlimm, aber es hat nichts damit zu tun, dass deine Mutter nicht für dich sorgen kann.«
»Mama hat gesagt, du hasst sie.«
»Früher, ja … da habe ich sie gehasst, aber das ist vorbei.«
Merle greift plötzlich mit beiden Händen nach dem Stadtplan und schmeißt ihn auf den Boden. Sie springt auf, trampelt darauf
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