Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Titel: Fremde Schwestern: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Ahrens
Vom Netzwerk:
aber Ihre Schwester ist schon lange nicht mehr drogenabhängig. Und sie hat die Erfahrung dieser schweren Erkrankung hinter sich, die auch noch nicht überstanden ist. Sie war oft so verzweifelt und hatte große Angst, was aus ihrer Tochter werden würde, wenn sie sterben sollte.«
    »Mir gegenüber hat sie das nur selten durchblicken lassen.«
    »Inzwischen ist sie ruhiger geworden. Allerdings haben mir ihre Zimmernachbarinnen und die Nachtschwester neulich gesagt, dass sie manchmal im Schlaf redet oder schreit. Es ist nicht zu verstehen, worum es geht, aber sie scheint Alpträume zu haben.«
    »Das wundert mich nicht …«
    Ich gehe in den Flur zurück. Merle sitzt jetzt auf Lydias Schoß und weint. Lydia hat die Arme um sie gelegt und wiegt sie hin und her. Was hat sie ihr gesagt? Dass ich früher ein Kartoffelmonster war, mich aber gebessert habe? Dass Merle deshalb bei mir wohnen soll und nicht in einer Pflegefamilie oder einem Heim? Dass sie sich jeden Tag sehen können, weil Winterhude nicht weit weg ist?
    Meistens habe ich genau verstanden, was Lydia im Schlaf gesagt hat. Lass mich nicht allein. Lass mich nicht allein. Dann dachte ich, sie sei wach. Was redest du denn da, sagte ich und bekam nie eine Antwort, weil Lydia tatsächlich schlief.
    Die beiden kommen auf mich zu. Merle weint nicht mehr. Sie klammert sich auch nicht an ihre Mutter.
    »Ich hab Hunger«, murmelt sie. »Und Bakul auch.«
    »Der wartet schon auf dich«, sagt Lydia.

    Merle redet, als sei nichts gewesen. Sie isst zwei Teller Spaghetti und drei Schälchen Obstsalat.
    »Jetzt kriegt Bakul was zu essen.«
    Merle läuft ins Schlafzimmer. Ich stehe im Flur.
    Sie erzählt Bakul von der Wohngruppe in Winterhude. Ihre Mama ist froh, dass sie aus dem Krankenhaus kommt. Aber sie ist oft müde und kann kein Essen kochen. Deshalb bleiben sie bei Tante Franka. Umziehen wäre schlimm. Dann müsste sie in eine andere Schule, könnte nicht mehr neben Elisa sitzen.
    Später sehe ich, dass Merle mit Bakul im Arm eingeschlafen ist. Ich breite eine Decke über ihr aus, lösche das Licht.
    Ich bin erschöpft, setze mich aufs Sofa.

    Das Klingeln weckt mich. Halb elf. Es ist Jan.
    In dieser Nacht erzähle ich ihm von der Nähe zwischen Lydia und mir, damals, als wir klein waren. Von meinen Versuchen, sie vor Mutters leerem Blick und Vaters harschen Worten zu beschützen. Ich erzähle ihm auch vom Neid auf meine schöne, begabte Schwester, die von Mutter bedingungslos geliebt wurde, bis zum nächsten leeren Blick, wenn sie wieder in ihre ferne Welt abtauchte und Lydia bei mir Trost suchte. Einen Trost, den ich ihr nicht verwehren konnte, auch wenn ich sie kurz zuvor noch gehasst hatte.
    »Und dein Vater?«
    »Er hat Lydia von Anfang an abgelehnt, weil er kein zweites Kind haben wollte. Die Liebe zwischen ihm und meiner Mutter war längst tot.«
    »Hat er dich geliebt?«
    »Es gefiel ihm, dass ich gut in der Schule war. Wenn auch nie gut genug.«
    »Und du, hast du ihn geliebt?«
    Ich schlucke. »… Ja … Er hat sie ausgenutzt, meine Liebe … als es mit Lydia immer schwieriger wurde. Kümmer dich um sie, hat er gesagt. Einer muss es ja tun.«
    Lydias Mangel an Ausdauer. Bald war mit dem Theaterspielen Schluss, weil sie die Hauptrolle nicht bekommen hatte. Das Singen im Chor war ihr zu mühsam, weil sie mittags länger in der Schule hätte bleiben müssen. Eine Weile malte und tanzte sie noch, bis auch in Kunst und Sport das Schwänzen begann. Mutter leugnete die Probleme. Lydia war ihr nah, ein verkanntes Genie. Ich war ihr fremd, war wie Vater. Lydia und sie lebten in Traumwelten, wir brachten was zustande.
    »Warst du nicht wütend auf deinen Vater? Dass er keine Verantwortung übernommen hat?«
    »Die Wut kam erst später, mit achtzehn oder neunzehn. Als Kind konnte ich es mir nicht leisten, auf ihn wütend zu sein. Er war alles, was ich hatte.«
    Jan nimmt mich in die Arme.
    »Vielleicht wäre er nicht so früh gestorben, wenn er sich von meiner Mutter getrennt hätte.«
    »Er hätte nicht nur deine Mutter verlassen. Auch dich.«
    So habe ich es nie gesehen.

23.
    M erle kommt schlaftrunken ins Wohnzimmer. Jan und ich liegen noch im Bett.
    »Ich hab so viel geträumt«, murmelt sie und kriecht zu uns unter die Decke.
    Sie reibt ihre kalten Füße an meinen Beinen. Ich hätte ihr längst Schlappen für zu Hause kaufen müssen.
    »In meinem Traum habe ich Bakul auf dem Markt gesucht. An allen Stoff-Ständen. Aber er war nicht da. Dann hat jemand Flöte

Weitere Kostenlose Bücher