Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
gespielt, ein alter Mann. Und eine Kobra ist aus dem Korb gekrochen, hat sich immer größer gemacht. Richtig getanzt hat sie nicht.«
»Vielleicht hast du von der Kobra geträumt, weil wir gestern eine Ringelnatter gesehen haben«, sagt Jan.
»Die war witzig. Sie hatte gelbe Flecken hinten am Kopf.«
»Ich habe sie mir, ehrlich gesagt, nicht so genau angesehen.«
»Warum hast du Angst vor Schlangen?«
»Weil sie giftig sein können.«
»Die war bestimmt nicht giftig. Mama ist mal von einer Schlange gebissen worden. Das war in Nepal. Sie hat sich auf einen Baumstamm gesetzt und vorher nicht geguckt, ob da eine Schlange liegt. Dann hat sie geschrien und musste eine Spritze bekommen.«
»Gibt es eigentlich was, was deine Mutter noch nicht erlebt hat?«, frage ich.
Lydia kommt uns auf dem Stationsflur entgegen. Sie trägt ihren üblichen Trainingsanzug und meinen alten Anorak. Ihr prüfender Blick gleitet von Merle zu mir und wieder zurück zu Merle. Sie wirkt erleichtert.
»Gehen wir in den Park?«
»Ja!« Merle strahlt.
»Bist du sicher, dass du das schaffst?«, frage ich.
»Ich werde am Dienstag entlassen. Dann muss ich noch ganz andere Dinge schaffen.«
Lydia hakt sich bei mir unter, Merle greift nach meiner freien Hand. So bewegen wir uns langsam auf den Ausgang zu.
Nach zwanzig Minuten erreichen wir den Park. Lydia steht vor Erschöpfung der Schweiß auf der Stirn. Wir setzen uns auf eine Bank und sehen Merle zu, wie sie über die Wiese rennt. Bakul hat sie vorher Lydia in die Hand gedrückt. Ein merkwürdiges Bild, meine blasse Schwester mit einem Stoffaffen auf dem Schoß.
»Dieses Äffchen liebt sie über alles«, sagt Lydia nach einer Weile. »Wie bist du darauf gekommen, ihr einen Affen zu schenken und keinen Bären oder Hasen?«
»Als wir bei Hagenbeck waren, hat Merle mir einen kleinen Affen gezeigt, der genauso aussah wie der, den sie in Indien hatte. So hat sie angefangen, mit mir zu sprechen.«
»Du hast dir viel Mühe gegeben.«
»Du warst lange skeptisch, ob Merle bei mir gut aufgehoben ist.«
»Es gibt immer noch Momente, in denen ich dir nicht traue.«
»Das geht mir genauso.«
In der Ferne rennt Merle mit ausgebreiteten Armen um den kleinen See herum.
»Weißt du noch, worüber wir gesprochen haben, bevor ich zusammengebrochen bin?«
»Es ging um Südafrika und Indien und meine Arbeit als Drehbuchautorin.«
»Das meine ich nicht … Ich habe gesagt, Merle und ich stellen uns vor, ein paar Wochen bei dir zu wohnen.«
Ich halte die Luft an.
»Du warst entsetzt.«
»Wundert dich das?«
»Ja, wir hatten zwar ewig nichts miteinander zu tun gehabt, und vorher war zwischen uns lange nur Hass gewesen. Aber hast du nicht gesehen, in was für einer verzweifelten Lage wir waren?«
»Ich habe angeboten, mit euch zum Sozialamt zu fahren.«
»Das hat mir den Rest gegeben.«
»Hast du allen Ernstes erwartet, dass ich euch bei mir aufnehmen würde? Nach allem, was passiert ist?«
»Ja …«
»Es wäre die Hölle, wenn wir zusammenwohnen müssten.«
»Die Hölle war das, was Merle und ich zuletzt in Nepal erlebt haben.«
Ich will sie nicht hören, die Geschichte, wie sie sich das Geld für die Flüge nach Hamburg verdient hat. Aber Lydia ist nicht zu bremsen. Eines Tages hätte sie beschlossen, sich vor eines der Hotels in Kathmandu zu setzen und zu betteln. Nach ein paar Stunden habe ein älterer Mann ihr das Angebot gemacht, mit auf sein Zimmer zu kommen. Ein widerlicher Typ aus dem Ruhrgebiet. So sei es immer weitergegangen mit diesen Männern, die ihre Notlage ausgenutzt hätten. Am schlimmsten sei jedes Mal der Gedanke gewesen, dass Merle in ihrer Abwesenheit etwas passieren könne.
»Wie lange hat es gedauert, bis du genug Geld für die Flugtickets zusammenhattest?«
»Ich … habe nach drei Monaten begriffen, dass ich es nicht schaffen würde, weil es mir immer schlechter ging. Schließlich habe ich mich an den Mann gewandt, bei dem ich zuletzt als Köchin gearbeitet hatte. Wir waren eine Weile zusammen gewesen. Ich habe ihn gebeten, mir den Rest der Summe zu leihen.«
»Dave?«
»Ja. Ich hab mir schon gedacht, dass Merle dir von ihm erzählt hat. Sie mochte ihn sehr. Und er sie auch. Ich glaube, er hat mir das Geld nur geliehen, weil er Mitleid mit ihr hatte und wusste, dass die Situation unerträglich für sie war.«
»Er muss sie wirklich sehr gemocht haben, denn er konnte sich doch denken, dass er das Geld nie wiedersehen würde.«
»Wieso?«, fragt Lydia mit
Weitere Kostenlose Bücher