Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
herum.
»Merle!«
Sie trampelt und brüllt. Ihr Gesicht läuft rot an.
»Hör auf!«
Sie denkt gar nicht dran. Ich versuche, sie bei den Schultern zu fassen. Da fällt sie in sich zusammen, fängt an zu weinen.
Ich hocke mich neben sie, will ihr die feuchten Haare aus der Stirn streichen. Sie stößt meine Hand weg.
»Ich kann es nicht ändern«, sage ich leise.
Sie steht auf, rennt aus der Küche. Im nächsten Moment wird die Schlafzimmertür zugeknallt.
Ich frühstücke. Nachher werde ich Jan anrufen. Vielleicht gelingt es ihm, Merle in bessere Stimmung zu versetzen.
Jan schlägt vor, in den Duvenstedter Brook zu fahren, dort zu picknicken, vielleicht sehen wir Rehe.
Ich rufe Merle zu, sie soll sich anziehen, wir werden einen Ausflug machen. Keine Antwort. Ich öffne die Tür. Sie hat sich unter ihrer Bettdecke vergraben.
»Steh bitte auf. Jan holt uns gleich ab.«
Das Bündel unter der Decke rührt sich nicht.
»Merle, ich rede mit dir.«
Keine Reaktion.
»Schluss mit dem Theater!«
Ich ziehe ihr die Decke weg. Im selben Augenblick fängt Merle wieder an zu brüllen.
»Jetzt reicht’s mir!«, schreie ich. »Ich kann es nicht ändern, dass deine Mutter krank ist und ihre Krankheit auch noch selbst verschuldet hat. Auf sie solltest du wütend sein, nicht auf mich.«
Beinahe hätte ich noch gesagt, du kommst in eine Pflegefamilie, wenn das so weitergeht.
Merle starrt mich an und ist still.
Jan gibt sich viel Mühe. Wir sehen sogar eine Ringelnatter. Merle bleibt stur. Will nicht über die Kobra ihres indischen Freundes sprechen. Nicht über ihre Lieblingsmelodie.
Irgendwann gibt Jan es auf. Wir fahren schweigend nach Hause.
Nachmittags im Krankenhaus bestehe ich darauf, als Erste zu Lydia ins Zimmer zu gehen. Die beiden Frauen liegen in ihren Betten, flüstern sich was zu. Es ist mir egal. Ich schildere Lydia meinen Vormittag.
»Hast du einen Vorschlag, wie ich Merle dazu bringen kann, ihre Haltung aufzugeben? Ich bin mit meinem Latein am Ende.«
»Du bist sauer auf sie«, sagt Lydia.
»Das kann man wohl sagen.«
»Warum?«
»Weil ich es nicht verdient habe, dass Merle so mit mir umgeht. Was kann ich für deine Krankheit?«
Lydia blickt mich aus ihren halbgeöffneten Augen an. Plötzlich ist mein altes Misstrauen wieder da.
»Sie ist manchmal so«, sagt Lydia. »Das liegt nicht an dir.«
»Wie lange hält das an?«
»Ich rede mit ihr.«
Merle sitzt im Stationszimmer und schaut aus dem Fenster.
»Deine Mutter wartet auf dich«, rufe ich und gehe weiter in Richtung Toiletten.
Ich schaue mich um. Merle geht langsam den Flur entlang. Klein und zart. Nichts erinnert an das brüllende Kind von heute Morgen.
Im Toilettenvorraum fällt mein Blick in den Spiegel. Angespannte Züge, dunkle Ringe unter den Augen. Du musst auf dich aufpassen, hat Esther neulich gemeint. Esthers Leben verläuft in ruhigen Bahnen. Ulrich liebt sie, er ist ein guter Vater. Das Schlimmste, was Esther passieren kann: Dass Ann-Kristin sich mal danebenbenimmt. Lydia und du. Dieselbe Sehnsucht. Nur eure Wege sind unterschiedlich. Mir schießen Tränen in die Augen. Leichtigkeit, Freiheit. Lydias Drogen. Mein Laufen. Wenn ich vom Laufen abgehalten werde, gerate ich in einen seltsamen Zustand und kann an nichts anderes mehr denken.
Ich wische mir die Tränen ab. Wenn Merle weiterhin schweigt, werde ich mich weigern, mit ihr nach Hause zu fahren.
Am anderen Ende des Stationsflurs sitzen Lydia und Merle. Lydia redet, Merle hat das Gesicht hinter ihren Händen versteckt.
Ich biege ins Stationszimmer ab.
»Gibt es Schwierigkeiten mit Merle?«, fragt die Schwester.
»Sie kann es nicht akzeptieren, dass ihre Mutter demnächst in einer Wohngruppe leben wird und nicht bei uns.«
»Daran wird sie sich bald gewöhnen.«
»Ich bin mir nicht so sicher. Sie weiß genau, dass dies kein Arrangement für ein paar Tage oder Wochen ist, sondern für länger.«
»Vielleicht hat Ihre Schwester Glück, und es klappt viel schneller mit der Transplantation.«
»Glauben Sie, dass sie eine Chance hat?«
»Operiert zu werden?«
»Nein, ich denke an die Zeit danach. Sie haben wochenlang mit ihr zu tun gehabt. Wahrscheinlich kennen Sie sie besser als ich. Wird sie jemals ein eigenständiges Leben führen können?«
»Die Gespräche mit der Psychologin haben ihr gutgetan. Sie hat den unbedingten Willen, gesund zu werden, um für ihre Tochter sorgen zu können.«
»Wenn sie nicht wieder rückfällig wird.«
»Möglich ist das immer,
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