Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
schon zurecht.«
»Ich lass Mama nicht allein«, ruft Merle. Sie sitzt auf Lydias Bett und sieht uns herausfordernd an.
Lydia nimmt Merle in die Arme, redet leise auf sie ein. Irgendwann gibt sie nach.
Nachts kommt mir der Gedanke, dass Lydia die eingespeicherten Nummern in meinem Handy anrufen und mit Jan, Esther oder meiner Redakteurin sprechen könnte. Ich liege bis zum Morgen wach.
Gleich nach dem Frühstück besorgen wir ein Handy für Lydia. Es geht ihr besser. Sie hat gut geschlafen. Merle strahlt. Mein Handy hat Lydia nicht benutzt.
Wir besuchen sie zweimal am Tag, gehen spazieren, spielen Memory, Mensch ärgere Dich nicht, Quartett. Zwischendurch arbeite ich, schaffe nie mein Pensum, lege Nachtschichten ein. Ich komme nicht mehr zum Laufen.
»Warum hast du so schlechte Laune?«, fragt Merle.
Ich erkläre es ihr.
»Lauf doch. Ich kann allein in der Wohnung bleiben.«
Ich engagiere Nicola für einen Vormittag.
Mein Lauf endet nach einer knappen Viertelstunde. Mein linkes Knie. Kein eigentlicher Schmerz, eher eine Blockade. Das habe ich noch nie erlebt. Ich versuche, Lockerungsübungen zu machen. Es wird nicht besser. Ich strecke mich auf der Wiese aus, blicke in den grauen Oktoberhimmel, könnte heulen vor Wut.
Ich humpele nach Hause. Warum erwischt es mich ausgerechnet heute? Habe ich mich nicht genug aufgewärmt? Ist es die zwölftägige Laufpause? Ich laufe seit über zwanzig Jahren und habe noch nie so lange ausgesetzt. Aber was sind schon zwölf Tage.
Ich schließe die Haustür auf. Du kannst es nicht erzwingen. Weder das Laufen noch ein geordnetes Leben.
Jan bietet an, an diesem Abend für uns zu kochen. Ich liege auf dem Sofa, lese Zeitung, höre Jan und Merle in der Küche miteinander lachen. Etwas ist anders geworden.
Am nächsten Morgen kann ich mein Knie wieder normal bewegen. Es bleibt nur eine leichte Empfindlichkeit im Gelenk.
25.
M erles letzter Ferientag. Sie hat sich Rührei zum Frühstück gewünscht. Draußen ist es grau und nass. Kein Wetter für einen Ausflug.
»Darf Mama heute bei uns schlafen?«
»Was?«
»Bei mir im Bett ist noch Platz.«
Lydia nachts in meiner Wohnung.
»Das wär so schön.«
»Wir können den Tag zusammen verbringen … Schlafen will sie sicher lieber in ihrem eigenen Bett.«
»Nein. Sie schläft am liebsten neben mir, hat sie gesagt. Dann weiß sie, dass es mir gutgeht.«
Ich habe Lydia bisher nicht zu uns eingeladen. Habe nicht darüber nachgedacht. Ich zögere.
»Bitte«, bettelt Merle.
Ich gebe nach.
Jubelnd läuft Merle zum Telefon. Ist es ein gemeinsamer Plan von Mutter und Tochter? Nein. Lydia muss überredet werden.
Jan hat Proben in Berlin. Er wird erst morgen Abend zurückkommen.
Merle zieht ihre Mutter hinter sich her ins Schlafzimmer. Lydia betrachtet das Bett, den Schrank, die Spielsachen.
»Hier wohnst du also. Schön.«
Der Ton in ihrer Stimme. Merle runzelt die Stirn.
»Wollen wir mit Bakul spielen?«, fragt Lydia.
Ich atme auf.
Wir kaufen Zutaten für ein Risotto, kehren in ein Eiscafé ein, bummeln an den Schaufenstern entlang. Lydia kommentiert die Damen- und Herrenmode, die wohlsituierten Eppendorfer. Wir bieten ein Bild der Eintracht, zwei Frauen mittleren Alters und ein kleines Mädchen, das seinen Stoffaffen schwenkt.
Lydia ist müde. Sie legt sich auf Merles Bett, behauptet, keinen Hunger zu haben. Merle macht ihr ein Brot mit gekochtem Schinken, schneidet es in Häppchen, dazu eine aufgeschnittene Tomate, ein paar Gurkenscheiben, ein Glas Orangensaft. Sie trägt das Tablett ins Schlafzimmer, legt eine Serviette auf Lydias Trainingshose, wartet, bis Lydia alles aufgegessen hat.
Ich blicke ins Schlafzimmer. Die beiden sind eingeschlafen. Lydia hält Merle im Arm. Merles Hand liegt auf Lydias Bauch.
Ich schließe leise die Tür, gehe ins Wohnzimmer, setze mich an den Schreibtisch. Ich sichte, sortiere, beginne zu lesen. Habe in den letzten Wochen doch einiges geschafft. Bald werde ich der Redakteurin meine erste Drehbuchfassung des Babyhandel-Krimis vorlegen können. Die Aussicht stimmt mich zuversichtlich, beinahe heiter.
Leise Stimmen im Flur, es klopft an meiner Tür. Lydia möchte sich einen Tee kochen. Ich begleite sie in die Küche.
Lydia sieht sich um, sieht mich an. Auch ich denke an jenen Morgen.
Wir setzen uns an den Tisch, trinken Tee, essen Plätzchen. Merle kommt hereingelaufen, ihr Blick wandert von Lydia zu mir und zurück zu Lydia. Sie strahlt.
»Wie geht es deinem Pianisten?«,
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