Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
Kind mit einem Äffchen auf der Schulter.
Wir probieren den Kuchen. Nur Merle hat Appetit.
Die Wohnungstür wird aufgeschlossen. Lydia schaut sich nervös um.
Ich stehe auf, gehe ich den Flur.
»Guten Tag.«
Eine junge Frau mit weinrot gefärbten Stoppelhaaren starrt mich an. »Wer sind Sie?«
Ich stelle mich vor, erkläre, dass meine Schwester ab heute hier wohnen wird.
»Ah, ja. Das hat man uns gesagt.«
»Kommen Sie doch rein.«
Ihre Gesichtszüge haben etwas Hartes, Unerbittliches. Vielleicht liegt es an dem schmalen Mund oder den vielen Piercings in den Ohren, der Nase, den Augenbrauen.
»Hallo«, sagt Lydia und lächelt.
»Hallo.«
»Wie heißt du?«, fragt Merle.
»Judith Steffen.«
»Wohnst du schon lange hier?«
»Seit vier Monaten.«
Ich versuche, nicht in dieses Gesicht zu sehen. Selbst die Zunge ist gepierct.
»Wie ist es so?«, fragt Lydia.
»Auf jeden Fall besser als das Wohnheim, in dem ich vorher war.«
Ich habe das Gefühl zu stören. Werde für Lydia einkaufen, so wie wir es vereinbart haben.
»Kommst du mit?«, frage ich Merle.
Sie schüttelt den Kopf.
»Warum nicht?«
»Lass sie doch hier, wenn sie hierbleiben will«, faucht Lydia.
Ich habe länger nicht diese Aggression in ihrer Stimme gehört.
Eine halbe Stunde später bin ich wieder da. Merle sitzt etwas verloren im Gemeinschaftsraum. Judith Steffen ist nirgendwo zu sehen.
»Eine Frau ist gekommen und gibt Mama eine Spritze. Es dauert ewig.«
»Wir hätten dir was zum Spielen mitbringen müssen.«
Merle antwortet nicht. Vielleicht gefällt ihr die Vorstellung nicht, allein in diesem Raum zu sitzen und zu spielen. Mir gefällt sie auch nicht mehr.
»Hast du die andere Frau schon gesehen?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Möchtest du was trinken?«
»Ich möchte zu Mama.«
Nach ein paar Minuten kommt die Pflegerin des ambulanten Sozialdienstes, der Lydias Betreuung übernommen hat, aus ihrem Zimmer und teilt mir mit, dass meine Schwester sehr erschöpft sei und sich ausruhen müsse.
»Darf ich nicht bei ihr bleiben?«, fragt Merle.
»Besser nicht.«
Lydia liegt auf dem Bett, ihre Augen sind geschlossen. Merle hockt sich neben sie, legt den Kopf auf ihre Hand. Ich packe die Einkäufe aus, koche Lydia einen Tee, kündige an, dass wir abends wiederkommen werden.
»Und wer kocht Mama was zu essen?«, fragt Merle.
»Mir wird was gebracht«, murmelt Lydia. »Mach dir keine Sorgen.«
Merle macht sich Sorgen. Ich auch.
Ich telefoniere lange mit Jan. Er versucht, mich zu beruhigen. Die Ärzte hätten es für richtig gehalten, Lydia zu diesem Zeitpunkt zu entlassen. Darauf solle ich vertrauen. Er schlägt vor, gemeinsam zu ihr zu fahren, aber ich will nicht unangemeldet mit Jan bei Lydia auftauchen. Die beiden sind sich seit ihrem Zusammenbruch nicht wieder begegnet.
Abends um sieben klingeln wir bei Lydia. Keine Reaktion.
»Wo ist Mama?«, fragt Merle erschrocken.
»Ich weiß es nicht«, antworte ich und klingele noch einmal.
Eine verlebt aussehende Frau öffnet uns die Tür. Anfang vierzig? Ich hätte sie zehn Jahre älter geschätzt.
»Sind Sie die Schwester von Lydia Daniels?«
»Ja.«
»Der ging’s vorhin nicht gut.«
»Was hatte sie?«
»Ihr war übel.«
»Mama!«, ruft Merle und stürzt in Lydias Zimmer.
»Sie braucht ein Handy, damit sie jemanden anrufen kann. Reiner Zufall, dass ich zu Hause war.«
»Tut mir leid, wenn Sie …«
»Macht nichts. Ich wollte es Ihnen nur sagen.«
Lydia liegt zusammengerollt im Bett. »Mir ist das Essen nicht bekommen.«
»Ich hätte dran denken müssen, dir ein Handy zu besorgen. Nimm erst mal meins. Soll ich dir meine Telefonnummer …«
»Die hab ich.«
»Wenn du mich übers Handy anrufen willst, musst du die Vorwahl von Hamburg wählen.«
»Aha …«
»Die PIN-Nummer habe ich schon eingegeben.«
Lydia richtet sich auf. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«
Ich erkläre es ihr noch einmal. Lydia wählt meine Nummer, spricht auf mein Band. Hier ist deine kranke Schwester. Es geht mir wieder schlechter.
»Arme Mama«, murmelt Merle.
Ich lasse Wasser in die Spüle laufen, wasche den schmutzigen Teller ab.
»Hast du eine Ahnung, was mit dem Essen nicht in Ordnung war?«
»Nein.«
»Nett von der Nachbarin …«
»Ja.«
»Willst du einen Tee?«
»Nein.«
»Hast du Schmerzen?«
»Nicht mehr.«
»Soll ich die Nachbarin bitten, ab und zu nach dir zu sehen?«
»Nein.«
»Was können wir noch für dich tun?«
»Nichts. Geht mal. Ich komm
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