Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
fragt Lydia.
»Jan ist an diesem Wochenende in Berlin.«
»Schade. Ich hatte gehofft, ich würde ihn mal näher kennenlernen. Merle spricht oft von ihm.«
»Wir finden sicher eine andere Gelegenheit.«
»Manchmal denke ich, du hältst ihn bewusst von mir fern.«
»Warum sollte ich das tun?«
»Vielleicht hast du Angst, ich könnte ihm was über dich erzählen.«
Ich hab’s gewusst. Es konnte nicht gutgehen.
»Zum Beispiel, wie böse du sein kannst.«
»Im Gegensatz zu dir, du Engel, nicht wahr?«
»Weißt du noch, die Geschichte mit den Kartoffeln?«
»Ich könnte dich auch an einiges erinnern.«
»Was denn?«, fragt Merle.
»Lasst uns was spielen«, sagt Lydia.
Merle fragt nicht noch mal nach.
Die Leichtigkeit ist verschwunden. Wir spielen Memory. Merle gewinnt dreimal hintereinander.
»Ihr passt nicht auf!«, ruft sie enttäuscht.
Später beim Kochen werde ich ruhiger. Lydia hat sich wieder hingelegt, Merle ist ihr ins Schlafzimmer gefolgt. Ich will diesen Abend ohne Streit überstehen. Morgen nach dem Frühstück kehrt Lydia in ihre Wohngruppe zurück. Im Radio ein Präludium von Chopin. Jan hat es neulich gespielt. Ich vermisse ihn.
Nach dem Essen will ich mich nicht mehr unterhalten. Im Fernsehen läuft ein Krimi. Warum nicht, sagt Lydia. Eine Dorfgemeinschaft verschweigt einen Mord, weil alle auf irgendeine Weise eine Mitschuld an dem Verbrechen tragen.
»Schreibst du auch solche Krimis?«
Ich nicke und schenke uns Wasser nach. Auf Wein habe ich verzichtet, Lydia darf keinen Wein trinken. In der Wohngruppe standen gestern drei leere Flaschen im Flur.
»Hast du Lust, mir mal was zu lesen zu geben?«, fragt Lydia nach einer Weile.
»Vielleicht …«
»Die Babyhandel-Geschichte würde mich interessieren.«
»Die ist noch nicht fertig.«
»Dann warte ich, bis sie fertig ist.«
In dieser Nacht schlafe ich fast überhaupt nicht. Läuft Lydia durch die Wohnung? Redet oder schreit sie im Schlaf?
Ich stehe auf, lausche im Flur. Im Schlafzimmer ist es still, so still, dass es mir auch unheimlich vorkommt. Ich schließe meine Tür ab.
Beim Frühstück verkündet Lydia, wunderbar geschlafen zu haben, so gut wie schon lange nicht mehr. Es sei eben doch etwas anderes, neben ihrer Tochter im Bett zu liegen.
»Siehst du«, sagt Merle.
Ich sage nichts.
»Hab ich geschrien?«, fragt Lydia.
Ich schüttele den Kopf.
»In Nepal hast du oft nachts geschrien«, sagt Merle.
»Kein Wunder, so schlecht wie’s mir da ging.«
»Erinnerst du dich an Mutters Theorie?«, frage ich.
»Nein.«
»Lydia hat so viel Phantasie, dass ihr nachts der Kopf überquillt.«
»Wann hat sie das gesagt?«
»Weiß ich nicht mehr.«
»War ich da schon in der Schule?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Hätte mich auch gewundert.«
»Warum?«, fragt Merle.
»Die Schule war nicht gut für mich. Meine Lehrer mochten kein Kind mit viel Phantasie.«
»Warum nicht?«
»War ihnen zu anstrengend.«
Die alte Geschichte. Ich habe nicht die Energie, Lydia zu widersprechen.
»Mutter hat mich als Einzige wirklich unterstützt.«
»Tante Franka hat gesagt, dass Oma viel krank war. Und dann konnte sie sich nicht um dich kümmern.«
Lydia schaut mich erstaunt an. »Ich wusste nicht, dass du mit Merle über Mutter sprichst.«
»Wieso war sie so viel krank?«, fragt Merle.
»Sie war nicht glücklich in ihrem Leben«, antworte ich.
»Sie war nicht glücklich in ihrer Ehe«, korrigiert Lydia mich.
»Warum nicht?«
»Weil dein Opa sich nicht mehr für sie interessiert hat«, erwidert Lydia lapidar.
»Und weil sie nach unserer Geburt nie wieder berufstätig war«, füge ich hinzu.
»Das war auch Vaters Schuld. Sie hätte als Schauspielerin Karriere machen können, aber das wollte er nicht.«
»Ich weiß nicht, ob es allein daran lag …«
»Natürlich lag es daran«, fährt Lydia mich an. »Er hat es ihr nicht gegönnt, Erfolg zu haben. Deshalb hat sie ihn gehasst.«
»Trotzdem war sie verzweifelt nach seinem Tod. Du hättest sie bei der Beerdigung sehen sollen …«
»Ich bin froh, dass mir das erspart geblieben ist.«
»Warum warst du nicht bei Opas Beerdigung?«, fragt Merle.
»Ich … ich konnte nicht hingehen … Mir ging’s damals nicht gut …«
»Weil du dir Drogen in den Arm gespritzt hast?«
In Lydias Gesichtszügen scheint etwas zu entgleiten. Mich trifft ein kalter Blick.
»Das hätte ich nicht von dir gedacht.« Lydia steht auf und läuft aus der Küche.
Merle rennt hinter ihr her. »Nicht böse
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