Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
zu den Untersuchungen in die Klinik, ihr Zustand ist stabil. Selbst die Ärzte staunen. Das Eurosignal trägt sie immer bei sich.
Sie erzählt mir von einem wiederkehrenden Traum, in dem sie den erlösenden Anruf bekommt und in derselben Nacht operiert wird.
»Du musst Geduld haben«, sage ich.
»Geduld war noch nie meine Stärke«, antwortet Lydia und zieht eine Packung Zigaretten aus der Tasche.
Diesmal greife ich nach ihrer Hand. »Du hast es so weit gebracht …«
Lydia lächelt und verzichtet auf die Zigarette. Sie tut es mir zuliebe.
Jan lädt uns ein, gemeinsam bei ihm zu kochen.
»Wie schön«, sagt Lydia.
Merle kann es kaum erwarten.
Lydia ist gelöst, charmant. Ich sehe die Verwunderung in Jans Gesicht.
Wir sitzen in der Küche, putzen Gemüse. Merle probiert am Flügel neue Melodien aus. Wir sprechen über Klavierunterricht. Ich habe erfahren, dass es an Merles Schule so etwas nicht gibt.
»Typisch deutsch«, sagt Lydia.
Jan lehnt sich zurück. »Eine junge Kollegin von mir nimmt neue Schüler auf. Sie hat mich gestern angerufen. Merle kann im Januar bei ihr anfangen.«
»Und das erzählst du erst jetzt?«, rufe ich.
»Es sollte eine Überraschung sein.«
»Wunderbar!« Lydia strahlt.
»Hast du auch schon ein altes Klavier gefunden?«, frage ich.
»Nein, aber ich habe darüber nachgedacht, wo wir eins hinstellen können. Wenn wir in Merles Zimmer das Bett etwas verrücken, passt gerade noch ein Klavier hinein.«
»Sie wird ihr Glück kaum fassen können«, sagt Lydia und steht auf.
Wir hören Merles Jubeln im Wohnzimmer. Ich wünsche, Jan hätte es ihr gesagt.
Auf Lydias Drängen hin spielt Jan nach dem Essen eine Fuge von Bach. Lydia lauscht mit geschlossenen Augen. Später bringt sie Jan mit ihren Geschichten zum Lachen. Ich spüre die alte Eifersucht.
Ich habe euch gesehen, verkündet Lydia beim Frühstück. Ihr habt euch geküsst. Na und?, sage ich und köpfe mein Ei. Du küsst andauernd irgendwelche Typen. Na, na, nun übertreib mal nicht, sagt Mutter und schnalzt mit der Zunge. Bei Franka wurde es allmählich Zeit, sagt Lydia und grinst. Mit achtzehn noch Jungfrau, das ist nicht normal. Ist es normal, mit vierzehn Drogen zu nehmen?, zische ich. Mutter schlägt mit der Hand auf den Tisch. Jetzt reicht’s! Ist doch wahr!, schreie ich. Du hast keine Ahnung, wo Lydia sich rumtreibt. Ich treibe mich nicht rum, und Drogen nehme ich auch nicht, sagt Lydia und sieht mir direkt in die Augen. Du lügst, ohne rot zu werden!, schreie ich. So viel Übung hast du darin. Musst du uns immer die Stimmung verderben?, stöhnt Mutter.
Mittags nimmt sie mich beiseite. Erzählt mir was über junge Mädchen, die so dumm sind, sich ein Kind andrehen zu lassen. Hab ich nicht vor, sage ich. Besorg dir die Pille, bevor es zu spät ist. Mehr fällt dir nicht dazu ein, dass ich mich verliebt habe?, frage ich. Was soll mir sonst dazu einfallen? Sie hat nicht mal den Namen des Jungen wissen wollen.
Simon und ich treffen uns im Park, im Schwimmbad, in der Stadt. Eines Samstags lädt er mich zu sich nach Hause ein. Seine Eltern begrüßen mich wie eine Retterin in der Not. Er ist so labil, unser Simon, sagt die Mutter. Hochbegabte Einzelgänger haben es oft schwer, sagt der Vater. Simon zieht mich in sein Zimmer, ein karger Raum mit einem Bett, einem Schrank, einem Schreibtisch. Wir setzen uns auf den Fußboden, hören Musik von Arnold Schönberg, essen Erdnussflips. Simon erzählt mir von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft. Hervorragende Texte bezieht er von dort. Mit Marcuse, Habermas und Adorno sollte ich mich auch mal beschäftigen. Ich hatte gehofft, wir würden uns küssen. Stattdessen vertiefen wir uns in die Schriften der Frankfurter Schule. Am Ende des Nachmittags schlägt Simon vor, ein Pfeifchen zu rauchen. Warum habe ich gedacht, er sei anders als die anderen? Es öffnet das Gehirn und erweitert den Horizont, sagt Simon. Mein Horizont ist weit genug, sage ich. Nach ein paar Zügen aus der Pfeife hat auch Simon Lust zu küssen. Ich mag den rauchigen Geschmack in seinem Mund nicht. Aber besser als nur Frankfurter Schule. Ich darf sogar zum Abendbrot bleiben, es gibt Dillhäppchen, Fleischsalat und ein Gespräch über unsere beruflichen Pläne. Philosophie will der Junge studieren, sagt der Vater und rollt die Augen. Eine brotlose Kunst. Mit einem ordentlichen Medizinstudium könnte er später mal die Praxis übernehmen. Hör auf, ruft Simon, sonst gehen wir! Und wie ist es mit Ihnen?,
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