Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
auf die Straße. Immer wieder rufen wir nach Merle.
Es hat angefangen zu regnen. Bald wird es dunkel. Wir suchen getrennt, rennen in die umliegenden Straßen. Überall parkende Autos. Hat sie sich ins Trockene gerettet? Ich frage in ein paar Geschäften. Niemand hat ein kleines, dunkelhaariges Mädchen gesehen.
Eine halbe Stunde später komme ich in die Wohnung zurück. Judith hat die Polizei benachrichtigt. Lydia ist noch nicht wieder da.
»Ich habe gehört, wie Sie sich gestritten haben«, sagt Judith.
»Merle hat es natürlich auch gehört. Wie konnten wir glauben, sie würde ruhig abwarten, bis wir entschieden haben, wo sie künftig wohnen wird.«
»Kann sie nicht bei Ihnen bleiben?«
»Das will sie nicht. Sie ist enttäuscht von mir. In ihren Augen hätte ich ihrer Mutter längst eine andere Unterkunft besorgen müssen. Aber das ist leichter gesagt als getan.«
»Geht es um den Streit mit Katja?«
»Wenn das die Frau ist, die neben Lydia wohnt …«
Es klingelt. Kurz darauf betreten zwei Polizeibeamte die Wohnung. Ich stelle mich vor, beschreibe, was geschehen ist. Die Beamten notieren meine Angaben über Merle.
Lydia kehrt zurück. Sie ist völlig durchnässt, außer sich vor Panik.
»Haben Sie ein Foto von Ihrer Tochter?«, fragt einer der Beamten.
Lydia läuft in ihr Zimmer, holt ihr Portemonnaie. Ihre Hände zittern.
Das Foto zeigt Merle mit einem kleinen Affen auf der Schulter. Sie blickt strahlend in die Kamera.
»Das Kind ist höchstens vier oder fünf«, sagt der Beamte.
»Das Bild ist über zwei Jahre alt«, murmelt Lydia.
»Ein neueres haben Sie nicht?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Ich leider auch nicht«, sage ich und frage mich, wieso ich in all den Wochen kein einziges Foto von Merle gemacht habe.
»Ist Ihre Tochter schon häufiger weggelaufen?«
»Noch nie!«, antwortet Lydia und erzählt von unserem Streit.
»Kennt sie sich in dieser Gegend aus?«
Lydia blickt mich fragend an.
»Sie kennt den Weg, den wir immer mit dem Rad nehmen, wenn wir hierherkommen. Entweder von der Goernestraße aus, wo sie bisher gewohnt hat, oder von ihrer Schule in der Knauerstraße.«
»Das ist immerhin ein Anhaltspunkt.«
»Werden Sie sie finden?«, fragt Lydia und zieht ihre nasse Jacke fester um die Schultern.
»Wir tun, was wir können.«
»Was ist, wenn jemand sie in sein Auto gelockt hat?«
»Würde sie mit einem Fremden mitgehen?«
»Normalerweise nicht, aber heute …«
»Wir wollen es nicht hoffen.«
»Passen Sie gut auf das Foto auf. Es ist das Einzige, das ich habe …«
Die Beamten versprechen, sich bei uns zu melden.
»Du musst heiß duschen«, sage ich zu Lydia.
Sie will erst mit Chris telefonieren. Ich höre, wie sie auf seiner Mailbox eine Nachricht hinterlässt, dass etwas Schreckliches passiert sei.
Wenn ich wenigstens Jan erreichen könnte. Er ist nicht zu Hause, sein Handy ist ausgeschaltet. Probt er heute Abend? Ich habe den Überblick verloren.
Esther. Eine halbe Stunde später ist sie da.
Lydia und sie haben sich seit über zwanzig Jahren nicht gesehen.
»Danke, dass du gekommen bist«, sagt Lydia.
Judith hat Tee gekocht. Wir sitzen in Lydias Zimmer, überlegen gemeinsam.
»Vielleicht ist Merle zu einer Freundin gegangen«, sagt Esther.
»Elisa. Natürlich.«
»Was hat sie für eine Nummer?«
»Die habe ich nicht dabei.«
»Wie heißt sie mit Nachnamen?«
In meiner Aufregung kann ich mich an nichts erinnern.
»Ich fahr los und hole die Nummer.«
»Oder ruf Merles Lehrerin an«, rät Esther.
Frau Rathjens ist zu Hause. Sie gibt mir Elisas Telefonnummer.
Ich wähle. Lydia steht neben mir. Elisas Mutter nimmt ab. Ist das Merles Stimme im Hintergrund?
»Bei uns ist sie leider nicht.«
»Oh, wir hatten so gehofft …«
Lydia bricht in Tränen aus.
»Wäre es möglich, dass Sie mit Elisa zur Wohnung meiner Schwester kommen?«, frage ich. »Vielleicht hat Elisa eine Idee, wo Merle steckt.«
Sie wollen sofort losfahren. Ich nenne ihr Lydias Adresse.
Wir warten.
Es klingelt. Lydia rennt zur Tür. Merle.
Nein, es ist Elisa, mit ihrer Mutter. Lydia hockt sich neben sie, sagt ihr, dass sie Merles Mama sei und sich große Sorgen mache, und wenn Elisa irgendwas wisse, was ihnen helfen könne, Merle zu finden, würde sie ihr immer dankbar sein.
»Merle und ich waren neulich nach der Schule mit Mama in dem kleinen Park …«, sagt Elisa.
»Gegenüber vom Hallenbad«, wirft ihre Mutter ein.
»Wir haben einen schönen Baum gefunden … das ist unser
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