Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
gestohlen … Dabei ging es um viel mehr … Ich war keine Mutter … nur eine ältere Schwester … Ich habe dich oft beneidet … gehasst … Du warst schön und begabt … Mutter hat dich so geliebt … Damals in Frankreich … Das war ungeheuerlich … Irgendwann wollte ich nichts mehr zu tun haben mit dieser Welt voller Schuldgefühle … Ich wollte frei sein …«
»Und, warst du frei?«
»Nein, ich war immer gebremst, immer kontrolliert …«
»Für mich warst du herzlos.«
»Ich hatte Angst vor Gefühlen.«
»Wolltest du deshalb kein Kind?«
»Ich weiß nicht … Ich konnte es einfach nicht …«
Wir schweigen. Ich schaue auf die Uhr. Kurz vor halb zehn.
»Wie lange ist Merle jetzt weg?«, fragt Lydia irgendwann.
»Seit über vier Stunden.«
»Ich geh noch mal los.«
»Wohin?«
»Die Straßen absuchen.«
»Soll ich hier warten?«
»Nein, wir gehen zusammen. Ich sag Judith Bescheid. Sie kann Merle aufmachen, falls sie in der Zwischenzeit zurückkommt.«
Es regnet nicht mehr, aber es ist kalt. Die erste kalte Nacht in diesem Herbst.
Ziellos laufen wir durch die Straßen, schauen in Hauseingänge, Hinterhöfe, dunkle Gärten. Nichts. Es hat keinen Sinn. Trotzdem laufen wir immer weiter. Ich friere. Lydia läuft beinahe vor einen Bus. Ich reiße sie zurück.
»Lass uns nach Hause gehen.«
Sie nickt.
Wir machen kehrt.
Ein paar Minuten später klingelt mein Handy. Es ist Jan.
»Rate mal, wer hier oben vor meiner Wohnungstür lag, als ich eben nach Hause kam?«
»Wirklich? Jan, wenn du wüsstest …«
Lydia entreißt mir das Handy. »Wo ist sie?«
Wir rennen zu meinem Wagen.
Wieso sind wir nicht auf die Idee gekommen, dass Merle zu Jan gegangen sein könnte? Auch wenn sie in den letzten Tagen nicht mit ihm gesprochen hat.
»Wie hat sie bloß den Weg gefunden?«, fragt Lydia.
»Sie kennt den Namen der Straße. Vermutlich hat sie sich dorthin durchgefragt.«
»Und wie ist sie reingekommen? Jan war doch nicht da.«
»Sie wird irgendwo geklingelt haben.«
Ich parke in einer Einfahrt. Lydia läuft voraus. Als ich sie einhole, hat Jan ihr schon die Haustür geöffnet. Ich brauche einen eigenen Schlüssel.
Jan steht oben auf dem Treppenabsatz.
»Hier lag sie, zusammengerollt auf der Fußmatte, und hat geschlafen.«
Lydia stürzt an ihm vorbei.
Ich höre ihren Aufschrei, laufe in die Küche. Lydia hält Merle in den Armen und weint.
»Das darfst du nie wieder tun, hörst du? Wir sind tausend Tode gestorben.«
»Wieso?«, fragt Merle und befreit sich aus der Umarmung. Dabei stößt sie beinahe ihren Orangensaft um.
»Weil dir so vieles hätte passieren können. Wir haben sogar die Polizei gerufen. Die sucht dich jetzt.«
»Die Polizei?«
»Es tut mir so leid, dass wir uns gestritten haben«, sage ich. »Wir wollten beide recht haben, und darüber haben wir nicht mehr an dich gedacht.«
»Ich will nicht bei fremden Leuten wohnen. Und auf eine andere Schule will ich auch nicht, weil ich neben Elisa sitzen möchte.«
»Wir werden bestimmt eine Lösung finden«, sagt Lydia und greift nach Merles Hand.
»Das sagen Erwachsene immer, und dann machen sie doch, was sie wollen.«
Lydia und ich sehen uns an.
»Wir werden nichts ohne dich entscheiden«, sage ich.
»Und wenn ihr euch wieder zankt?«
»Wir werden versuchen, uns nicht mehr zu zanken«, antwortet Lydia. »Ich hab dich lieb, und ich will nicht, dass du unglücklich bist.«
Einen Moment lang sind wir alle still.
»Ich glaube, ihr solltet jetzt die Polizei benachrichtigen«, sagt Jan. »Und dann gibt’s Spaghetti.«
Wir rufen auch bei Judith und Esther an. Lydia hinterlässt eine neue Nachricht für Chris. Elisa will Merle selbst anrufen. Sie ist noch wach.
»Was? Ihr wart im Park?«, hören wir Merle sagen. »Das wär mir viel zu nass gewesen … Ich bin zu dem Freund von Tante Franka gegangen … Der Mann mit dem Klavier … Was? … Weil meine Mama und Tante Franka sich so gezankt haben …«
Deine Schwester liegt im Krankenhaus, sagt Mutter am Telefon. Bitte geh sie besuchen. Wieso?, frage ich. Ich will sie nicht sehen, und sie will mich auch nicht sehen. Lydia hat niemanden außer uns, seitdem euer Vater tot ist. Als ob Vater sich jemals um sie gesorgt hätte, sage ich. Ein Penner hat Lydia in einer Bahnhofstoilette gefunden, sagt Mutter und fängt an zu weinen. Sie wäre fast an einer Überdosis Heroin gestorben. Das wundert mich nicht, sage ich. Bitte geh zu ihr, schluchzt Mutter.
Jetzt bin ich
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