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Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Fremde Schwestern: Roman (German Edition)

Titel: Fremde Schwestern: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate Ahrens
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neuer Lieblingsplatz … die Äste gehen bis auf den Boden … da drunter ist es wie in einem Zelt …«
    »Meinst du, Merle könnte sich dort versteckt haben?«, fragt Lydia.
    »Ich weiß nicht. Man wird da nicht nass, wenn’s regnet.«
    Wenig später hält Esthers Espace vor dem Eingang zum Park. Wir springen aus dem Wagen, Elisas Mutter schaltet eine Taschenlampe ein, wir folgen Elisa. Zielsicher läuft sie auf einen Baum mit tiefhängenden Ästen zu.
    Merle sitzt nicht unter dem Baum. Ich starre auf den vom Lichtkegel erleuchteten leeren Fleck. Wie können wir geglaubt haben, Merle würde sich in einen dunklen Park flüchten.

    Die anderen sind nach Hause gefahren, Judith ist in ihr Zimmer gegangen, Lydia und ich sind allein.
    »Wenn wir Merle nicht wiederfinden, ist alles verloren«, flüstert Lydia. »Dann habe ich nicht mehr die Kraft, gesund zu werden.«
    »So weit sind wir noch nicht«, antworte ich. Mein Mund ist trocken.
    »Ich habe ständig Bilder vor Augen, wie sie unter ein Auto gerät, wie jemand mit ihr fortgeht, wie sie in den Kanal fällt …«
    »Hör auf!«
    »Nein, ich höre nicht auf!«, schreit Lydia plötzlich. »Ich bin ihre Mutter! Ich habe Angst um sie, unendliche Angst! Das kannst du dir gar nicht vorstellen. Du hast ja kein Kind!«
    »Meinst du, ich habe keine Angst um sie?«, schreie ich zurück. »Wer hat sie denn in letzter Zeit versorgt? Wer ist nachts aufgewacht und hat sich um sie gekümmert, wenn ihr schlecht war? Wer hat versucht, ihr ein Gefühl von Geborgenheit zu geben? Etwas, das sie schon lange nicht mehr gehabt hat.«
    »Ich warne dich! Fang nicht an, mir vorzuwerfen, wie wir gelebt haben.«
    »Hast du nicht gesehen, wie verdreckt und ausgehungert sie war, als ihr Ende August bei mir aufgetaucht seid?«
    »Spiel dich nicht als die bessere Mutter auf! Die Rolle passt nicht zu dir.«
    »Ich habe ihr zu essen gegeben, habe sie neu eingekleidet, habe ihr mein Bett zur Verfügung gestellt.«
    »Na und? War das so ein großes Opfer? Du hast doch Geld genug, hast du neulich selbst gesagt.«
    »Hier geht es nicht ums Geld.«
    »Sondern?«
    »Ich habe dafür gesorgt, dass Merle ein normales Leben führen kann wie andere Siebenjährige auch, anstatt vor irgendwelchen Absteigen in Nepal auf ihre Mutter warten zu müssen, die sich prostituiert, weil sie …«
    »Das reicht!«
    Bevor ich weiß, wie mir geschieht, springt Lydia auf und schlägt mir ins Gesicht.
    »Bist du verrückt geworden?«, schreie ich und greife nach ihren Handgelenken.
    »Du bist zu weit gegangen. Ich hatte dich gewarnt.«
    Ich stoße sie auf ihren Stuhl zurück und nehme meine Jacke.
    »Jetzt haust du ab. Das sieht dir ähnlich, feige wie du bist.«
    »Ich schlage mich nicht, weder mit dir noch mit sonst irgendwem. Das hat mit Feigheit nichts zu tun.«
    »Du machst dich aus dem Staub. Dabei bist du schuld daran, dass Merle weggelaufen ist.«
    »Wir sind beide schuld. Hätten wir nicht diesen Streit gehabt, quasi in ihrer Gegenwart, …«
    »Merle ist nur konsequent. Du hattest ihr versprochen, eine andere Unterkunft für mich zu suchen, wenn ich hier unglücklich sein sollte. Aber dann überlässt du alles der Sozialarbeiterin, und nichts passiert.«
    »Und du willst Merle von heute auf morgen in eine neue Umgebung verpflanzen. Dabei weißt du doch, wie wichtig ihr die Freundschaft mit Elisa ist.«
    »Du hast dein Versprechen gebrochen, und das ist etwas, was Merle verachtet.«
    »Es ist Aufgabe der Sozialarbeiterin, mit dir zusammen eine Lösung zu finden.«
    »Das ist nicht das Problem! Wieso kapierst du das nicht? Du versprichst Dinge, die du nicht hältst! Darin hast du jahrelange Übung.«
    »Das ist nicht wahr!«
    »Mir hast du früher versprochen, dass du mich nicht allein lässt. Aber du hast mich allein gelassen, und danach hatte ich überhaupt keinen Halt mehr.«
    »Lydia, ich …«
    Tränen schießen mir in die Augen. Ich will nicht weinen, nicht vor Lydia. Meine Kehle brennt. Die Glaswand. Lydia stirbt, und ich kann nicht zu ihr. In mir zerreißt etwas. Ein Laut platzt heraus. Lydia starrt mich an. Ich schlage die Hände vors Gesicht. Ich weine.
    »Ich dachte, du kannst gar nicht weinen«, sagt Lydia schließlich.
    Ich blicke hoch. »Ich konnte diese Familie nicht mehr ertragen. Ich musste weg. Vielleicht hätte ich nicht weggehen dürfen …«
    »Es war wegen Simon.«
    »Das habe ich all die Jahre auch gedacht … Ich brauchte eine Rechtfertigung … Du hattest mir meine erste große Liebe

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