Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
Merle … Lass uns miteinander reden.«
Sie isst weiter.
Ich rufe Lydia an.
»Wundert mich nicht, dass Merle nicht mit dir redet.«
»Hast du deine Sozialarbeiterin erreicht?«
»Es gibt zurzeit keinen anderen Wohngruppenplatz in der Nähe.«
»Wie war die Nacht?«
»Es hat wieder eine Auseinandersetzung mit der Frau gegeben. Dann ist sie abgehauen, hat woanders übernachtet.«
»Ich wollte mich noch mal entschuldigen … wegen der Bemerkung gestern …«
»Du hast gesagt, was du denkst. Über mich, über Chris. Wozu die Heuchelei?«
»Ich wünsche dir, dass …«
»Ist schon gut. Bring Merle nach der Schule vorbei.«
Dieses Mal gelingt es Lydia nicht, Merle versöhnlich zu stimmen. »Sie ist sauer, weil du dein Versprechen gebrochen hast«, sagt Lydia abends am Telefon.
»Das ist doch Wahnsinn«, antworte ich und lege auf.
Ich bitte Jan, mit Merle zu sprechen, bin mir sicher, dass sie ihm gegenüber nicht stumm bleiben wird. Ich habe mich getäuscht.
Merle schweigt seit Mittwochabend. Heute ist Montag. Ich kann nicht mehr.
Ich hole Merle von der Schule ab, bringe sie zu Lydia. Die beiden flüstern.
»Merle will nicht mehr bei dir wohnen«, sagt Lydia. »Wir können sie nicht zwingen.«
»Wie stellst du dir das vor?«, frage ich. »Soll sie hier mit einziehen?«
Merles Blicke wandern zwischen uns hin und her.
Lydia gibt ihr einen Kuss. »Geh einen Moment in den Gemeinschaftsraum. Es dauert nicht lange.«
Zögernd verlässt Merle das Zimmer. Die Tür bleibt angelehnt. Ich schließe sie.
»Warum kann sie nicht ’ne Weile hier wohnen?«, fragt Lydia und zündet sich eine Zigarette an.
»Weil du damit überfordert bist. Ich werde den Sozialdienst und das Jugendamt benachrichtigen. Wenn Merle nicht mehr bei mir wohnen will, muss sie in einer Pflegefamilie untergebracht werden.«
»Chris hat mir angeboten, dass Merle und ich nach seiner Rückkehr zu ihm ziehen können. Er will sich mit mir zusammen um sie kümmern.«
»Aber Chris ist viel unterwegs.«
»So viel nun auch wieder nicht.«
»Wo wohnt er?«
»In Altona.«
»Und wie soll Merle jeden Tag zur Schule kommen?«
»Wir werden natürlich in Altona eine neue Schule für sie suchen.«
»Obwohl sie sich hier gerade so gut eingelebt hat?«
»Merle ist flexibel.«
»Nicht so laut«, sage ich und schaffe es selbst nicht, meine Stimme zu senken. Im Gegenteil, ich ereifere mich mehr und mehr, vor allem als Lydia mir vorwirft, ich würde die Dinge immer so verbissen sehen.
»Du weißt ja nicht, was du redest!«, schreie ich. »Ich habe alles versucht, habe in den letzten drei Monaten mein Leben komplett umgekrempelt, um deiner Tochter ein Zuhause zu geben, solange du krank bist. Aber jetzt ist Schluss, ich mache dieses Gezerre um Merle nicht mehr mit. Soll das Jugendamt entscheiden, was das Beste für sie ist.«
»Lass doch diese blöden Behörden aus dem Spiel.«
»Was ist denn das für eine Haltung! Diese angeblich blöden Behörden bezahlen euren Lebensunterhalt und ermöglichen es dir, in der Wohngruppe zu leben. Außerdem beraten und betreuen sie dich, wo sie nur können. Wie kannst du so tun, als hätten diese Leute alle keine Ahnung!«
»Als Mutter weiß ich am besten, was für mein Kind gut ist.«
»Das mag sein, aber was passiert, wenn es dir plötzlich wieder schlechter geht und Chris nicht da ist? Dann wartet Merle vor der Schule und wird nicht abgeholt. Oder sie sitzt neben deinem Bett, während du dich übergibst. Willst du das?«
»Mir geht es schon viel besser.«
»Ich weiß, aber die Ärzte haben dich gewarnt. Du bist alles andere als gesund.«
»Franka, ich …«
»Es ist jederzeit möglich, dass du einen Schwächeanfall bekommst, oder es kann Probleme geben, weil die Dosierung der Medikamente auf einmal nicht mehr stimmt.«
»Ich bin Optimistin.«
»Gut. Wie du willst. Ich geb’s auf.«
»Bring mir ein paar Anziehsachen von Merle und ihre Zahnbürste vorbei.«
Ich nicke. Kurz nach fünf. Beim Jugendamt erreiche ich heute niemanden mehr. Bis morgen wird Merle hierbleiben müssen.
»Wir sind fertig«, ruft Lydia in den Flur.
Die Tür zum Gemeinschaftsraum steht offen.
Der Raum ist leer.
»Wo ist sie?«, höre ich Lydia hinter mir fragen.
»Ich weiß nicht.«
Wir klopfen an die Türen von Lydias Mitbewohnerinnen. Nur Judith ist zu Hause. Sie hat Merle an diesem Nachmittag nicht gesehen.
»Sie ist weg!«, ruft Lydia. »Das kann doch nicht wahr sein!«
Wir laufen die Treppen hinunter, nach draußen
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