Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
noch was vorhättest, ruft Vater und grinst. Wir setzen uns an den Wohnzimmertisch und fangen schweigend an zu essen. Ich denke an Lydia. Vor drei Wochen hat man sie in einem schmutzigen Hausflur in der Nähe des Hafens gefunden. Seitdem ist sie wieder in einem Therapiezentrum. Hast du schon gesehen, was ich deiner Mutter zum Geburtstag geschenkt habe?, fragt Vater nach dem zweiten Stück Butterkuchen. Ich schüttele den Kopf. Eine Küchenmaschine, sagt er. Die wollte sie unbedingt haben, dabei kocht sie gar nicht mehr. Das stimmt nicht, giftet Mutter ihn an. Aber du bist ja fast nie mehr zu Hause. Schläfst du jetzt schon im Büro?, frage ich. Oder gehst du ins Hotel? Sei nicht so frech, sagt Vater. In dem Moment klingelt es. Mutter springt auf. Wenn sie das ist, gehe ich, sagt Vater. Mutter rennt in den Flur. Ich habe Lydia zuletzt im Eppendorfer Park gesehen. Da saß sie vollgedröhnt mit Simon auf einer Bank. Aber auch das ist schon über ein Jahr her. Lydia!, ruft Mutter im Flur. Mein Lydia-Kind! Was für schöne Blumen du mir bringst! Astern! Ich liebe Astern! Das hast du natürlich nicht vergessen! Niemand sonst hat mir Blumen geschenkt! Ich wette, sie hat wieder die Therapie abgebrochen, sagt Vater und steht auf. Mir reicht’s! Kannst du nicht noch ein paar Minuten bleiben?, frage ich. Wozu?, fragt er und geht. Hallo, Papa, höre ich Lydia sagen. Willst du mich nicht begrüßen? Ich sollte auch gehen, denke ich. Da betritt sie das Wohnzimmer. Ausgemergelt, blass, mit dunklen Schatten unter den Augen. Ich dachte, ich schau mal vorbei, sagt sie und lächelt. Schließlich wird Mama heute fünfzig. Und euer Vater verdrückt sich mal wieder, sagt Mutter. Das kennen wir doch!, ruft Lydia. Mach dir nichts draus, jetzt bin ich ja da! Was ist mit deiner Therapie?, frage ich. So ein idiotisches Konzept, stöhnt Lydia. Das hält kein Mensch aus. Meine arme Lydia, sagt Mutter und nimmt sie in die Arme. Du bist so dünn geworden! Das liegt bestimmt nicht an der Therapie, sage ich. Was soll nur aus dir werden, wenn ich mal nicht mehr bin?, sagt Mutter. So was darfst du nicht denken, ruft Lydia und küsst Mutter auf beide Wangen. Auf euren Vater ist kein Verlass, sagt Mutter und dreht sich zu mir um. Würdest du für Lydia sorgen? Nein, niemals, sage ich. Wie kommst du denn auf die Idee?
30.
D rei Tage, vier Nächte. Ich halte es nicht aus. Lydia telefoniert, Lydia hört laute Musik, Lydia kommt ständig in mein Zimmer.
»So geht es nicht weiter«, sage ich.
»Wieso nicht?«, fragt Lydia.
»Ich kann nicht arbeiten, wenn du in der Wohnung bist.«
»Willst du mich zu dieser Frau zurückschicken?«
»Ich habe dir schon am Sonntag gesagt, du musst mit deiner Sozialarbeiterin sprechen. Vielleicht gibt es eine andere Wohngruppe, in der ein Platz frei ist.«
»Franka, die Frau ist gefährlich. Du hast doch mitgekriegt, wie sie mir gedroht hat.«
»Du hörst mir nicht zu. Ich habe gerade gesagt, vielleicht gibt es eine andere Wohngruppe …«
»Ich hasse Wohngruppen.«
»Oder eine Einzimmerwohnung.«
»Du schmeißt mich also raus?«
»Lydia, wir können nicht monatelang zu dritt in meiner kleinen Wohnung leben. Du brauchst dein eigenes Zuhause. Und ich brauche Ruhe zum Arbeiten.«
»Wenn Chris wieder da ist, wohne ich bei ihm.«
»Wer weiß, wie lange das mit Chris hält.«
Lydia starrt mich an.
»Tut mir leid …«
Kurz darauf fällt die Wohnungstür ins Schloss.
»Wieso ist Mama nicht da?«, fragt Merle nachmittags.
»… Wir haben uns gestritten.«
»Du willst nicht, dass sie hierbleibt.«
»Es geht nicht, Merle. Ich kann mich nicht konzentrieren.«
»Du hast versprochen, dass du Mama hilfst, wenn sie in der Wohngruppe unglücklich ist.«
»Ich will ihr auch helfen. Aber erst mal muss sie mit der Frau vom Amt reden. Die kennt sich mit solchen Problemen aus und weiß vielleicht …«
»Mama soll nicht unglücklich sein.«
»Natürlich nicht.«
»Mama ist am liebsten bei mir. Hier hat sie keine Angst. Und hier schreit sie auch nicht im Schlaf.«
»Lydia kann nicht auf die Dauer mit uns zusammenwohnen. Wir haben zu wenig Platz. Es gibt nur Streit.«
Merle läuft aus dem Zimmer.
An diesem Abend geht sie ins Bett, ohne mir gute Nacht zu sagen.
»Merle …«
Sie liegt mit offenen Augen da, Bakul fest im Arm.
»Ich will für uns alle das Beste.«
Keine Antwort.
Halb sieben. Ich wecke Merle.
Sie läuft schweigend ins Bad.
Ich trinke Kaffee, Merle schaufelt ihr Müsli in sich hinein.
»Bitte,
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