Fremde Wasser
Stuttgarter Zeitungen von anderen Gästen gelesen wurden. Auf den Spiegel hatte er keine Lust, nicht so früh am Morgen und nicht auf nüchternen Magen. Er beobachtete die Gäste, hoffte, dass einer
die Lektüre beenden würde, aber keiner legte eine der Zeitungen zur Seite.
Er sah auf die Uhr. Acht. Noch eine Stunde, bis Olga kam! Noch eine Stunde sich selbst aushalten. Ohne Zeitungen. Ohne irgendeine
Ablenkung. Er überlegte, was er heute zu tun hatte. Mit Olga die alte Frau besuchen. Ihr klarmachen, dass er den Auftrag nicht
annehmen würde. Dann die Überwachung der Erbengemeinschaft fortsetzen. Im Grunde, überlegte er, würde es ausreichen, wenn
er den Anschluss des ältesten Bruders abhörte, der das Anwesen des Vaters übernehmen wollte. Er dachte an die riesige Summe,
mit der dieser seine Geschwister auszahlen wollte. Wo bekam er so viel Geld her? Von der Bank? Verdiente er als Anwalt so
viel? Denglers Laune sank weiter.
Martin Klein hat es gut, dachte er. Er schreibt jeden Tag seine Horoskope, und wenn ihm nichts mehr einfällt, blättert er
in den Prophezeiungen, die er vor drei Jahren verfasst hat und die damals schon zeitlos gültig waren, kopiert, ändert hier
und da ein wenig, und fertig ist das neue Horoskop. Klein war der felsenfesten Überzeugung, dass er mit einem positiven Horoskop
Tausenden von Frauen den Tagesbeginn versüßen würde. Für ihn war das Schreiben von positiven Horoskopen eine gute Tat, sein
Beitrag zu einer positiv gesinnten Menschheit.
Vielleicht sollte ich morgens einfach seine Horoskope lesen.
Das Einzige, was ich kann, ist, Personen zu jagen.
Seine schlechte Laune drohte sich in eine tiefe Depression zu verwandeln.
Seltsam, dass er nie darüber nachgedacht hatte. Alles, was er wirklich beherrschte, war Menschenjagd.
Als er noch Zielfahnder beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden gewesen war, hatte er sich an dieser Einseitigkeit nie gestört.
Warum jetzt?
»Wie siehst du denn aus?«, fragte Olga und küsste ihn sanft auf die Wange.
Er hatte nicht bemerkt, dass sie eingetreten war. Sie setzte sich ihm gegenüber und strahlte ihn an.
»Another day in paradise«, summte sie vor sich hin.
»Nicht Phil Collins. Und schon gar nicht am frühen Morgen«, knurrte er, und sie lachte.
Der Mann am Nachbartisch sah auf, klappte die Zeitung zu und bot ihr mit einer Geste das Blatt an. Sie nahm es dankend und
reichte es Dengler über den Tisch.
»Mir reicht der Wirtschaftsteil«, sagte sie, »ich muss wissen, welche Messe zurzeit in der Stadt ist.«
»Mir ist der Sinn meiner Arbeit abhandengekommen«, sagte Dengler düster.
»Na, so was«, sagte sie, »hast du eine überflüssige Illusion verloren?«
Sie winkte der Bedienung.
»Zwei Gläser Schampus«, rief sie laut durch das Brenners, »wir haben etwas zu feiern!«
Dengler sah sie verwirrt an. Aber als er in ihre strahlenden Augen sah, liebte er sie mehr denn je.
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Noch einige Informationen
Sie luden die alte Dame ins Café Planie ein. Während es draußen schneite und eiskalter Wind die Erwartungen der Menschen auf den Frühling verspottete, saßen sie an
einem Tisch beim Fenster und sahen schweigend ins Schneetreiben.
»Erzählen Sie uns von Ihrer Enkelin«, sagte Dengler schließlich.
Die alte Frau knallte die Spitze ihres schwarzen Stockes auf den Boden und fixierte Dengler, als sei seine Aufforderung eine
Zumutung.
»Sie war ein gutes Mädchen. Und sie hatte ein starkes Herz. In unserer Familie ...«
»Verheiratet?«
»Natürlich.«
Empört betrachtete sie Georg Dengler.
»Mit wem?«
»Andreas Schöllkopf heißt ihr Mann, er ist Wissenschaftler und arbeitet an der Technischen Universität.«
»In Berlin?«
»Ja, natürlich in Berlin«, sagte sie ungnädig.
»Dort hatte Ihre Enkelin auch ihren Wahlkreis?«
»Ja. Berlin II.«
»Für die Konservativen?«
»Für wen sonst, was glauben Sie denn?«, fauchte sie.
»Sie war 42?«
»Ja.«
»Kinder?«
»Eins.«
Ein kaum merkliches Zögern lag in ihrer Antwort.
»Was ist mit dem Kind?«, fragte Olga leise.
»Was soll mit dem Kind sein ... – na ja, es ist nicht ihres.«
»Der Mann hat es mit in die Ehe gebracht?«
»Nein.«
Mit einem Ruck fuhr sie auf und starrte Olga empört an.
»Die beiden kennen sich seit Kindheitstagen. Sie haben jung geheiratet. Das ist heute außer Mode gekommen. Die Leute wollen
ja keine Kinder mehr.«
»Von wem ist das Kind also?«, fragte Dengler.
»Sie haben es adoptiert. Ein süßes
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