Fremde Wasser
alten Dame anzunehmen. Sachlich klang sie, aber nicht verärgert. Vielleicht lag es nicht an ihm, dass sie sich zurückzog.
Diese Szene: Mario hatte sich zu ihrhinübergebeugt und ihr etwas ins Ohr geflüstert. Eifersucht schnürte ihm plötzlich die Luft ab. Was konnte Mario zu Olga gesagt
haben? Er beschloss, ihn zu fragen. Gleich nach dem Frühstück würde er ihn in seinem Atelier besuchen.
Die Weißwürste aß er hastig und ohne Genuss. Als er sicher war, dass Olga nicht kommen würde, machte er sich auf den Weg.
* * *
Mario schien sich zu freuen, als Georg Dengler sein Atelier betrat. Er trug einen dunkelblauen Kittel, der besser zu einem
Kfz-Meister gepasst hätte.
»Willst du einen Schnaps?«
»Um Gottes willen – es ist früh am Morgen!«
»Ich war noch nicht im Bett.«
»Das sieht man dir an. Du hast Tränensäcke wie Derrick und blaue Ränder um die Augen wie ... wie Papst Benedikt..«
»Na, der hat wohl einen anderen Lebenswandel.«
»Oder auch nicht.«
Sie lachten und hatten wieder den vertraulichen Umgangston gefunden, den sie in ihrer nahezu lebenslangen Freundschaft ausgebildet
hatten.
»Was machst du gerade?« Dengler wies auf die Rückseite der Leinwand, die zur Wand gelehnt stand.
»Ich male gerade das Bild meines Lebens. Das Leben selbst. Seine Doppeldeutigkeit. Und die fatale Illusion der Hoffnung.«
»Die fatale Illusion der Hoffnung?«
»Die wirkliche Freiheit beginnt jenseits der Hoffnung. Solange du auf irgendetwas hoffst, bist du nicht frei.«
»Darf ich das Bild sehen?«
Dengler merkte, wie Mario zögerte.
»Georg, mir wäre es lieber, du siehst es erst, wenn es fertig ist.«
»In Ordnung.«
Dengler betrachtete seinen Freund. Er wirkte müde, aber zufrieden.
Ganz das Gegenteil von mir.
»Wir kennen uns jetzt schon fast unser gesamtes Leben lang«, sagte Dengler.
Mario nickte und ging zu einem Schrank, öffnete ihn und holte eine Flasche ohne Etikett heraus. Aus der Spüle zog er zwei
Gläser, hob sie kurz gegen das Fensterlicht, schien mit seiner Prüfung zufrieden und stellte dann alles auf den Tisch. Er
goss die beiden Gläser zur Hälfte voll. Dann setzte er sich.
»Wir haben uns noch nie um eine Frau gestritten«, fuhr Dengler fort.
»Stimmt«, sagte Mario, trank einen Schluck.
»Ein Obstler aus der Heimat«, sagte er, »aus Altglashütten.« »Kannst du dir vorstellen, dass wir einmal Streit wegen einer
Frau bekommen?«
»Nein«, sagte Mario und trank noch einen Schluck.
Eine warme Welle freundschaftlicher Gefühle durchflutete Dengler. Nie würde sein Freund sich an seine Freundin heranmachen.
Die Freundin des Freundes ist tabu. Jetzt griff auch Dengler nach dem Glas. Beide stießen an und tranken. »Warum eigentlich
nicht«, fragte Dengler vorsichtig, »wenn es doch eine besondere Frau wäre, gut aussehend ...«
»Mit edlem Charakter.«
Dengler lachte: »Meinetwegen auch damit.«
Eigentlich wollte er von Mario hören, dass sich Freunde niemals die Freundin ausspannen. Aber der sagte: »Wir haben es sowieso
nicht in der Hand.«
Dengler verstand ihn nicht.
Mario sah Denglers fragendes Gesicht. »Das ist doch einfach«, sagte er, »wer entscheidet, wer mit ihr geht? Die Frau entscheidet!
Und wer von uns beiden würde mit ihr gehen? Der, den sie mitnimmt. Und der andere bleibt zurück. Deshalb bräuchten wir uns
doch nicht zu streiten.«
Er hob sein Glas.
Unsicher trank Dengler mit.
Der Alkohol trübte schnell seinen Verstand.
Ich könnte das nicht ruhig mit ansehen, wenn Olga mit einem anderen Mann ging.
Er dachte kurz über den Zusammenhang von Freiheit und Hoffnung nach.
Dann fragte er: »Was hast du denn zu Olga gesagt, gestern Abend? Kurz, bevor sie gegangen ist?«
Marios Gesicht schien angestrengt. Er dachte nach. Dann klärte sich seine Miene auf.
»Jetzt weiß ich's wieder. Ich sagte ihr, dass ich für Grauburgunder aus dem Kaiserstuhl schwerste Folter ertragen würde. Ich
dachte, das sei irgendwie witzig, aber Olga reagierte überhaupt nicht auf die Bemerkung.«
Dengler atmete hörbar aus. Er war erleichtert. Kein Grund zur Eifersucht.
Mario kniff die Augen zusammen und fixierte Dengler.
»Und jetzt erzähl mir mal, warum du hierherkommst und mir so merkwürdige Fragen stellst.«
Dengler atmete tief ein, dann erzählte er seinem Freund von Olgas verändertem Verhalten. Mario trank noch einen Schluck Schnaps
und hörte zu.
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