Fremde Wasser
bei Borchardt reserviert. Er freut sich auf das Abendessen mit seiner Schwester.
Eigentlich ist er sich nicht sicher, ob sie das Restaurant mag. Zu viele Leute, die gern gesehen werden wollen. Trotzdem,
er will seiner Schwester etwas bieten, und er will ihr zeigen, dass er es zu etwas gebracht hat. Dass die Kellner ihn hier
kennen, dass der Chef ihn persönlich begrüßt. Das ganze Ambiente des Erfolgs. Er will sie überzeugen. Von was, fragt er sich
und kennt die Antwort sofort. Von sich. Von seinem Leben. Schließlich war er es, der den gemeinsam ausgedachten Weg verlassen
hat. Er denkt verlassen und meint verraten.
Als sie an seinen Tisch tritt, steht er auf und küsst ihre Hand. Kellner huschen herbei und nehmen ihr den Mantel ab. Sie
setzt sich. Zwei Gläser Champagner stehen vor ihnen. Sie trinken. Sie lächelt ihn an.
»Mein großer, kleiner Bruder«, sagt sie, »spendiert der großen Schwester ein Glas Schampus. Veuve?«
»Ja.«
»Den es zu Hause immer gab.«
»Ja.«
Sie mustert ihn.
»Elegant siehst du aus«, sagt sie.
»Und du? Ein wenig – erschöpft.«
Sie beugt sich über den Tisch.
»Ich möchte mit dir über Wasser sprechen.«
Er lehnt sich zurück.
»Das ist gut«, sagt er, »da kenne ich mich aus.«
Die Speisekarten sind da. Sie wählen.
Nach einer Weile sagt Karin: »Steff, machen wir uns nichts vor. Die Sache mit dem Wasser steht schlecht. Seit 1949 hatsich der Wasserverbrauch versechsfacht. Gleichzeitig verschmutzt die Menschheit das Wasser in immer größerem Umfang. Bei gleichbleibenden
Tendenzen von Wasserverbrauch und -verschmutzung gehen hydrologische Schätzungen davon aus, dass bis 2025 mehr als die Hälfte
der Menschheit an Wassermangel leiden wird.«
»Ich sehe das nicht so negativ wie du. Das Wasser wird knapp, aber das bedeutet auch, dass die Preise steigen. Der Wassermarkt
wird in wenigen Jahren genau so attraktiv sein wie der Ölmarkt. Ihn vielleicht sogar überholen.«
»Aber immer mehr Menschen werden keinen Zugang zu sauberem Wasser haben. Die werden gezwungen sein, verschmutztes Wasser zu
trinken, krank werden und sterben.« »Je mehr Geld wir im Wassergeschäft verdienen, desto mehr können wir investieren. Die
Armen an die Wasserversorgung anschließen. Wir werden Wasser aus der Arktis in riesigen Schläuchen in die Regionen transportieren,
die eine Nachfrage haben, wir werden Eisberge von Nordkap nach Kalifornien schleppen, wir werden ...«
»Ihr werdet es dorthin bringen, wo eine zahlungsfähige Nachfrage herrscht. Wo die Nachfrage nicht zahlen kann, lasst ihr sie
verdursten.«
Pause.
»Du klingst schrecklich nach einem dieser Gutmenschen.«
Sie lächelt ihn an.
»Wie sollen wir uns unterhalten? Wie Bruder und Schwester, die sich über ein Thema unterhalten, das sie beide interessiert?«
»Oder?«
»Wie fremde Kampfhähne, die sich über ein Thema zanken und unterschiedliche Interessen verfolgen.«
»Was würdest du mir dann sagen?«
»Ich würde dir sagen, dass ›Gutmensch‹ein konservativer Kampfbegriff ist, erfunden, um Leute zu denunzieren, die dem urmenschlichen
Bedürfnis nachgehen, etwas für dieGesellschaft Nützliches zu tun. Ich würde dir weiter sagen, dass es eine misslungene Parodie auf engagierte Menschen ist und
wenig aussagt über diese, aber viel über diejenigen, die diesen Begriff polemisch verwenden.«
»Dann lass uns wie Bruder und Schwester reden.«
Sie hebt ihr Glas. Er das seine. Genau in der Mitte des Tisches treffen sie sich mit einem leisen Klingen.
Dann sagt er: »Was weißt du von Cochabamba?«
»Das übliche Prozedere. Die Weltbank vergibt Kredite nur, wenn Bolivien das Wasser privatisiert. Das ist die Auflage, und
diesmal profitiert mein Bruder davon.«
»Und die Armen Boliviens.«
»Die Armen?«
»Liest du keine Zeitung? Weißt du nicht, wie viele Haushalte in Cochabamba keinen Wasseranschluss haben?«
»Doch, das weiß ich. Aber ich weiß auch, dass du nicht vorhast, daran etwas zu ändern.«
Stimmt, denkt er.
»Bruder, du ... du bist unserem Vater so ähnlich geworden.«
Er sieht sie überrascht an.
»Der gleiche Ehrgeiz. Die gleiche Blindheit. Das gleiche harte Herz. Ich gebe dir einen Rat: Lass die Finger von diesem Projekt.
Es wird dir nicht gelingen. Die Zeiten sind vorbei, wo sich diese Leute still enteignen lassen. Es ist ihr Wasser.«
»Was weißt du?«
»Es ist nur ein Rat.«
Crommschröder betrachtet seine Schwester. Sie ist älter geworden. Er sieht die
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