Fremde Wasser
ihn zu, das Maul weit geöffnet.
Ihre spitzen scharfen Zähne erschreckten ihn.
Er war bereits um sechs Uhr wach.
Dengler sprang aus dem Bett, warf sich seinen roten Bademantel über und ging die Treppen hoch zu Olgas Wohnung. Er klopfte
leise, aber sie antwortete nicht. Ob sie noch schlief?
Er ging wieder hinunter in seine Wohnung. Ein Blick aus dem Fenster: Regen. Die Straße war nass und ungemütlich. Er beschloss,
heute seine Liegestützen zu machen. Er hatte sie schon zu oft ausfallen lassen. Vor der Marienstatue, die er seit seinen Kindheitstagen
in Altglashütten mit sich herumschleppte und die nun einen vorläufig endgültigen Platz auf einem schmalen Wandpodest gefunden
hatte, ging er auf die Knie. Einmal. Zweimal. Dreimal. Viermal. Er musste an Olga denken. An ihre plötzliche Verwandlung gestern
Abend. Wann war das passiert? Als Mario ihr etwas ins Ohr geflüstert hatte? Als sie an ihm vorbei zum Fenster des Basta gestarrt hatte?
Noch am Nachmittag hatten sie sich geliebt, und sie war frei,ungezwungen und herrlich schamlos gewesen. Doch dann war etwas passiert. Was hatte Mario ihr zugeflüstert?
Georg wurde sich bewusst, dass er die Liegestützen eingestellt hatte und auf beiden Armen aufgestützt in Richtung der Fenster
starrte. Er stand auf und legte eine Junior-Wells-CD auf.
Oh, Hoodoo man
I'm just tryin' t'make her understand
Blues hilft, wenn man ihn hat.
Er hörte eine Weile Juniors Mundharmonika und seiner rauen Stimme zu. Er dachte an seine Reise nach Chicago, an sein Treffen
mit Junior Wells, aber immer wieder kehrten seine Gedanken zu Olga zurück.
* * *
Nachdem er geduscht und sich angezogen hatte, fuhr er den Rechner hoch. Er kontrollierte routinemäßig seine Bankauszüge. 7000
Euro waren auf sein Konto eingezahlt worden. Bar. Verwendungszweck: Fall Schöllkopf. Die alte Lady meinte es ernst.
Nun gut. Er würde sich in die Sache reinknien. Auch Olga zuliebe. Ob sie schon aufgestanden ist? Ihn überwältigte das Bedürfnis,
sie zu sehen. Vorsichtig ging er erneut die Stufen zu Olgas Wohnung hoch. Bevor er klopfte, legte er kurz sein Ohr an die
Tür. Er hörte ein schwaches Geräusch hinter der Tür. Er pochte an die Tür. Nichts rührte sich.
»Olga, ich bin's. Georg.«
Keine Antwort.
Er klopfte etwas fester.
Erneut keine Antwort.
»Olga, ich weiß, dass du da bist.«
Nun hörte er ein schwaches Geräusch, das einem Kratzen glich.
»Georg, ich muss nachdenken. Ich brauche jetzt etwas Ruhe.«
Nur mühsam unterdrückte er die vielen Fragen, die ihm auf der Seele lagen.
»Ich gehe zum Brenner frühstücken. Komm doch nach – wenn du willst.«
Er wandte sich zur Treppe, drehte sich noch einmal um und ging zur Tür zurück.
»Deine Freundin vom Heiligen Antonius hat mir einen ordentlichen Vorschuss überwiesen.«
»Georg?«
»Ja.«
»Nimm den Fall ernst. Versprochen?«
»Ja. Sicher.«
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Kalter Wind
Der Besucher nähert sich Stuttgart, der Stadt, die sich in einem Kessel eingerichtet hat, immer von den Hügeln her, die die
Stadt umlagern. Gleich ob von Norden oder Süden, wer in die Stadt will, muss den Berg hinunter. Auch der Wind suchte an diesem
Morgen diesen Weg. Er blies durch den Stadtteil Kaltental, der seinen Namen völlig zu Recht trägt, kalte und nasse Luft in
die Stadt. Wie um alle Hoffnungen auf den Frühling zu verhöhnen, mischte er Schnee und Eisregen, jagte die Passanten durch
die Straßen, freute sich, wenn diese ihre Mäntel enger zogen oder Handschuhe und Mützen noch einmal aus den Taschen zogen,
allesamt Kleidungsstücke, die sie bereits im hinteren Winkel des Schrankes eingemottet hatten.
Es war unmöglich zu sagen, was schwerer wog: die unzeitgemäße Kälte, die den Körper sich zusammenziehen ließ, oder die enttäuschte
Hoffnung auf Sonne, Vogelgezwitscher, Krokusse und endlich kurze Röcke.
Dengler, der die wenigen Schritte vom Basta zu Brenners Bistro ging, schien weder Kälte noch Nässe zu stören. Mit der Rechten zog er die beiden Enden des Mantelkragens vor der Brust zusammen,
aber in Gedanken war er bei Olga und ihrer veränderten Stimmung. Wieder und wieder vergegenwärtigte er sich den Ablauf des
gestrigen Abends, wie in einem Film ließ er ihn vor seinem inneren Augen abspulen, aber fand in seinem Verhalten keinen Anlass
zu ihrer Verärgerung.
Aber war sie überhaupt verärgert? Verärgert über ihn? Er überlegte. Sie hatte ihn in einem völlig ruhigen Ton gebeten, den
Fall der
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