Fremde Wasser
Falten um ihre Augen. Plötzlich steigt eine
überraschende Wärme in ihm auf. Seine Schwester! Sie hat ihm im Grauen ihrer Familie das Überleben ermöglicht. Sie hatte für
ihn immer einen Fluchtweg parat. Tränen treten in seine Augen, und er wischt sie schnell und unbemerkt weg.
Karin scheint seinen Stimmungswandel gespürt zu haben. Sie legte ihre Hand auf die seine.
»Steff«, sagt sie, »komm zu uns. Komm wieder auf die andere Seite.«
Und alles in ihm jubelt: Ja, das will ich!
Er zieht seine Hand zurück.
Schroff.
Ich kann nicht mehr zurück, denkt er.
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Londoner Wasser
Den Kauf der Londoner Wasserwerke hatte noch Dr. Kieslow eingefädelt – Crommschröder war damals noch sein Assistent. Aber
den Laden zu einem der profitabelsten Unternehmen im Konzern gemacht zu haben–das ist sein Werk, und darauf ist er stolz.
Über 100 Millionen Pfund überweist London Jahr für Jahr an die Konzernzentrale in Deutschland, und in zwei Jahren wird der
Gewinn die Kaufsumme plus Zinsen eingespielt haben. Dann wird die Wassersparte des VED auf eigenen Füßen stehen. Zum selben
Zeitpunkt, Crommschröder lächelt bei dem Gedanken, wird Dr. Kieslow den Vorstand verlassen und in den Aufsichtsrat wechseln.
Erregender als jede erotische Phantasie ist für Crommschröder, sich die Rede Dr. Kieslows vorzustellen, mit der er ihn als
seinen Nachfolger vorstellt. Im Geiste, nachts, wenn er neben Heike liegt und nicht schlafen kann, entwirft er diese Rede
und prüft sie, verbessert sie, geht sie wieder und wieder durch, erweitert sie, streicht einzelne Teile und schreibt andere
in Gedanken um.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der VED-Konzern verfügt über sehr viele fähige Männer, die jeden Energiekonzern der
Welt führen könnten. Aus diesem unglaublichen Potenzial den Besten heraufzufiltern ist keine leichte Aufgabe, vielleicht die
schwerste in meinem Leben. Denn ich weiß, die Entscheidung für den einen enttäuscht den anderen (in seiner Phantasie zoomt
eine Kamera Joseph Waldners nervöses Gesicht heran). Doch es gibt diesen einen, es gibt den Besten unter den vielen Guten.
Ich schlage Ihnen als meinen Nachfolger vor – Dr. Stefan C. Crommschröder.
Bescheiden wird er dann aufstehen. Wird sich im Griff haben. Fast verlegen. Mit einer schnellen Geste einen Knopfam Jackett schließen und nach vorne zur Bühne eilen. Der Saal wird applaudieren. Seine Krieger werden begeistert aufspringen.
Er wird eine bescheidene Rede halten. Das Werk Dr. Kieslows weiterführen. Und dann, welch ein Hochgenuss, stellt er sich das
Gespräch mit Joseph Waldner vor. Ihn wird er als Ersten feuern.
So lange braucht er die Überweisungen aus London. Sie sollten Jahr für Jahr steigen und immer ein wenig über dem Plan liegen.
Merkwürdigerweise ist er Kieslow auch damals nicht wirklich näher gekommen, in jenen aufregenden Tagen, als sie der englischen
Regierung die Londoner Wasserversorgung abkauften. Die frühere britische Premierministerin Margret Thatcher hatte 1989 die
öffentliche Wasserversorgung in England und Wales zerschlagen und in zehn private Aktiengesellschaften aufgeteilt. VED erwarb
den größten Brocken und nannte die neue Gesellschaft London Water.
Rückblickend bezeichnet er diese Zeit als seine Lehrjahre. Aus der Nähe konnte er die Arbeit der britischen Regierung beobachten,
und er fand, dass sich die Kategorien von Tausch- und Gebrauchswert auch auf die Handlungen einer Regierung anwenden ließen.
Thatcher begründete in der Öffentlichkeit die Privatisierung der Wasserversorgung mit dem hohen Investitionsbedarf, den die
Kommunen nicht mehr aufbringen könnten. Dies wäre nur für private Kapitalgeber möglich. Intern sprach jedoch kein einziger
Regierungsvertreter davon oder verlangte gar, dass die VED Geld in das teilweise veraltete Leitungsnetz Londons stecken sollte,
und Kieslow dachte nicht im Traum daran. In den über anderthalb Jahrzehnten, in denen sie London Water bisher betrieben, hat
die VED keinen nennenswerten Betrag in die Infrastruktur gesteckt.
Crommschröder lernt, dass eine Regierung immer auf zwei Ebenen argumentiert: Einmal für das Publikum und die Presse, die die
offizielle Version in ihren Artikeln und Sendungenhin und her wendet; daneben existiert die zweite Ebene, die wirkliche, die nur selten ausgeleuchtet wird und für die sich
nur wenige Journalisten interessieren. Auf dieser Ebene geht es viel weniger erhaben zu,
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