Fremde Wasser
nun geschieht etwas, womit im Münsterland niemand gerechnet hat. Die Busfahrer und all die anderen Beschäftigten
der ehemaligen Verkehrsbetriebe streiken.
Zum ersten Mal seit vielen Jahren erinnert sich Stefan Crommschröder an Eugen Seitzle. Eigentlich sollte ich ihn mal wieder
in Stuttgart besuchen, denkt er, als er von dem Ausstand der Münsteraner Busfahrer informiert wird. Lieber Eugen, großer Kommunist,
sieh her, da kehrt dein Schüler heim und bringt dir als Morgengabe einen richtigen Streik deiner geliebten Arbeiterklasse
mit, den er zwar nicht organisiert, aber doch verursacht hat.
Er weiß nicht, ob Seitzle noch lebt. Er hat lang nichts von ihm gehört, und es war ihm auch egal. Jetzt rechnet er nach.25 Jahre ist er nun schon aus Stuttgart fort. Wie alt war der Schriftsetzer damals, als er ihn in seiner Wohnküche in den
Marx'schen Schriften unterrichtete? 60 Jahre? Dann wäre Seitzle jetzt 85. Er könnte noch leben. Andererseits: Ein Schriftsetzer,
der sein Leben lang mit Blei hantiert hatte, würde wohl kaum so alt werden.
Er verscheucht den Gedanken. Was war, das war, und er war Seitzle nichts schuldig.
Oder doch?
In Münster rechnet niemand mit einem Erfolg des Busfahrerstreiks. Das Münsteraner VED-Büro hält engen Kontakt mit der Stadtverwaltung.
Von dort versichert man ihm, der Streik werde bald zusammenbrechen. Allerdings schienen die Busfahrer hartnäckiger als erwartet.
Der Streik geht in die zweite Woche. Dann in die dritte. Sie verlangen die Rücknahme der Ausgliederung der Verkehrsbetriebe.
Nach vier Wochen Streik knickt die Stadt ein. Die Busfahrer kommen zurück in die Stadtwerke. Crommschröder tobt. Krisensitzungen
jagen sich. Er entwickelt den Plan, die Stadtwerke zu kaufen, und die Stadt soll das Defizit der Verkehrsbetriebe an die VED
überweisen. Der Kämmerer listet die Risiken auf. Schwierige Verhandlungen.
Die siegreichen Busfahrer setzen nach. Sie organisieren ein Bürgerbegehren gegen die Privatisierung der Stadtwerke, sammeln
Unterschriften an jeder Straßenecke und stoßen dabei auf große Zustimmung bei der Bevölkerung. »Keine Privatisierung des Münsteraner
Wassers«–mehr als einmal sieht Crommschröder derartige Transparente in den Fernsehnachrichten.
Die für ein Bürgerbegehren notwendige Zahl an Unterschriften wird weit übertroffen. Das Ergebnis ist eindeutig: Die Münsteraner
Bürger wollen keinen Verkauf ihrer Stadtwerke. Erneut Krisensitzungen im Rathaus. Crommschröder rät dazu, hart zu bleiben.
Die Entscheidungskompetenzen, das Fachwissen sei nun mal bei der Verwaltung, nicht bei denBürgergruppen und erst recht nicht bei den Busfahrern, die ihnen das alles eingebrockt haben.
Aber alles Reden nützt nichts. Angesichts des Protestes der Bürgerschaft gibt Münster sein Privatisierungsvorhaben auf.
Für Crommschröder wird es eine unangenehme Vorstandssitzung. In der Nacht davor trinkt er eine Flasche Barolo. Dann ruft er
im Internet die Telefonauskunft auf: Es gibt noch einen Anschluss auf den Namen Eugen Seitzle. Immer noch in Kaltental.
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Es ist die Wahrheit
Als er wieder zu sich kam, dauerte es einige Sekunden, bis er begriff, wo er war. Er lag auf seinem Bett. Den Kopf höher.
Auf etwas Weichem. Er spürte eine Hand. Sie streichelte ihn. Dann hörte er ein leises Wimmern. Etwas Warmes tropfte auf seine
Wange. Er öffnete die Augen und sah Olga. Sie weinte.
Der Nebel löste sich auf. Es dauerte einige Augenblicke, bis er sich an die Szene auf der Treppe erinnerte.
»Georg, bist du wach?«
Er versuchte, sich aufzurichten. Sofort hämmerten Kopfschmerzen der schlimmsten Sorte oberhalb seiner linken Schläfe. Er tastete
die Stelle ab und fühlte eine riesige Beule.
»Georg, es tut mir so leid.«
Er richtete sich auf und sah Olga an.
»Was zur Hölle ist eigentlich los?«
Er holte tief Luft, doch sie legte ihm den Zeigefinger auf die Lippen, und er atmete nur ganz sachte aus.
»Ich erzähle dir alles. Ich dachte …«
»Warum hast du mich angegriffen? Mit was eigentlich?«
»Pfefferspray.«
»Pfefferspray? Warum, um Gottes willen ...«
»Ich dachte, es wären die anderen.«
»Welche anderen?«
Sie brach in Tränen aus.
Dann sagte sie: »Erinnerst du dich noch an den Abend vor ein paar Tagen unten im Basta?«
»Und wie ich mich erinnere«, brummte er und befühlte seine Beule.
»Am Fenster habe ich plötzlich meinen Mann gesehen.«
»Deinen Mann? Ich dachte, der wäre längst
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