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Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Hollinghurst
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könne ihn verletzen, seinen Blessuren eine neue hinzufügen, doch sein finsterer zögernder Blick verwandelte sich in eine Miene der Besorgnis um sie.
    »Nein, wart’s ab«, sagte sie und küsste ihn flüchtig auf die Wange. Sie ging wieder voraus, den L-förmigen Korridor entlang, bis zur obersten Stufe der Haupttreppe, wo sie sich jäh mit den dramatisch in Szene gesetzten Greifen, oder was immer sie darstellen sollten, mit ihren Schilden und erhobenen Glaslaternen konfrontiert sah. Im grellen Licht der Öffentlichkeit, schoss ihr in den Kopf.
    »Ich glaube, das sollen geflügelte Drachen sein«, sagte sie beim Hinuntersteigen.
    »Aha«, sagte Revel, als hätte er sie danach gefragt.
    In dem riesigen Spiegel im Flur der ersten Etage traten sie, wie Figuren einer Geschichte, aus dem Licht in den Schatten. Sie dachte, sie sei jetzt innerlich ruhiger, dann aber fing sie an zu tratschen, im Flüsterton. »Ich muss dir unbedingt erzählen, was Tilda Strange-Paget« – sie sah sich um – »über Stinker gesagt hat, mein Lieber!«
    »Oh, ja«, sagte Revel, der nur mit einem Ohr zuhörte, wie jemand, der am Lenkrad saß.
    »Ich weiß gar nicht, ob ich das darf – aber anscheinend hat er – irgendwo versteckt – noch eine andere.«
    Revel lachte leise. »Hm, ich frage mich nur, wo er sie … versteckt.« Er verlangsamte seine Schritte und blieb vor der Tür zu seinem Zimmer stehen. »Bist du sicher?«
    »Wie soll man da sicher sein …«
    »Nein, ich meine …« Sein Blick ging von ihr zur Tür. Was sie wollte, war ganz einfach, und plötzlich kam sie sich verloren vor. Es war abwegig, beinahe übernatürlich, aber sie hatte den Eindruck, als könnte sie ihre Mutter in ihrem Zimmer atmen hören, dann sah sie Clara vor sich, im Gästezimmer, das weit weg in einem anderen Teil des Hauses lag, und schließlich Dudley – aber daran wollte sie nicht denken.
    »Nein, nicht hier«, sagte sie, nahm Revel an der Hand und führte ihn weiter über den Korridor, um die nächste Ecke. Auf einem Tisch brannte eine Lampe für die Gäste, und als Daphne die Tür zur Wäschekammer öffnete, wischte ein gewaltiger Schatten wie ein Flügel über die Decke. »Willst du nicht hereinkommen?«, sagte sie feierlich, musste aber gleichzeitig kichern.
    Es war dunkel, was gerade das Schöne war, und man sah den Sternenhimmel durch die Dachluke schimmern und den Mond, der durch diesen Schacht ganz andere Schatten im Raum erzeugte. Wieder keine Farbe, nur das weiße Leuchten der gestapelten Bettlaken in den Regalen inmitten der Gefilde aus Grau. »Man kann von hier aus aufs Dach klettern«, sagte Daphne.
    »Jetzt lieber nicht«, murmelte Revel, hielt ihr Gesicht in beiden Händen und küsste sie. Einen Moment schwankte sie, dann legte sie beide Arme um ihn und packte den Schoß seiner Smokingjacke über dem sehnigen unbekannten Körper. Sie ließ sich von ihm küssen, als wäre alles noch rückgängig zu machen, eine Art Eröffnungsspiel, doch dann gab sie sich mit einem heftigen Stöhnen einverstanden und erwiderte seinen Kuss.
    Sie küssten sich und küssten sich, Revel hielt sie rücksichtsvoll und streichelte sie, aus dem Gemurmel und verstohlenen Lächeln zwischen den Küssen, den kleinen parodierenden Rhythmen der Küsse an sich, entspann sich eine Komödie der Befangenheit. Dennoch, es war wunderbar, ein vergessenes Vergnügen, jemanden zu beglücken, der nur dein Glück wollte. Noch nie war sie an einem einzigen Abend von zwei Männern geküsst worden – in ihrem ganzen Leben hatte sie erst zwei, drei Männer geküsst. Der Kontrast war verblüffend und herrlich. Die selbstverständlich unausgesprochene Tatsache, dass Revel gerne Männer küsste, machte es umso schmeichelhafter für sie, vielleicht auch unwirklicher. Revel besaß noch etwas anderes als die gängige Erfahrung, die Männer in diesen Dingen hatten, und das zeigte sich in seinem spitzbübischen Blick. Jetzt, da es angefangen hatte, konnte sich Daphne nicht mehr sicher sein, ob es ernst gemeint war. Doch wenn nicht, dann machte vielleicht gerade das seinen Charme aus, seinen Sinn. Für einen Moment trat sie zurück und berührte in dem monochromen Licht, das sich von der Dachluke ergoss, Revels Gesicht, seine intelligente Nase, seine Augenbrauen, seine Lippen. Er nahm dabei ihre Hand und küsste sie. Dann küsste er sie wieder auf die Wange. Es war beinahe befremdend, dass er sie nicht zu mehr drängte. Hatte er überhaupt je eine Frau geküsst, frag te sie sich. Wenn

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