Fremden Kind
Daphne sah Revel dabei zu, wie er die Zeichnung vollendete. Dann hörten sie das Rasseln und Rauschen der Wasserspülung, das noch lauter wurde, als sich die Zimmertür wieder öffnete und Corinna eintrat. Sie wirkte jetzt ausgeglichener, wacher auch. Ihre Anständigkeit vor sich hertragend, eigentlich Ausdruck der Persönlichkeit, die sie bei Tageslicht erkennen ließ, stieg sie wieder ins Bett.
»Ich lese euch jetzt noch etwas vor, und danach schlaft ihr brav weiter, ja?«, schlug Daphne vor.
»Oh, ja, bitte«, sagte Corinna, legte sich hin und drehte sich auf die Seite, bereit zuzuhören und einzuschlafen.
Daphne schaute neben Wilfrids Bett, dann stand sie auf und suchte unter Corinnas Büchern nach etwas Geeignetem. Große Lust hatte sie nicht, aber die Kinder würden schnell wieder zur Ruhe kommen. »Ach, du liest Das Silbertablett? Das Buch habe ich geliebt … aber ich glaube, da war ich schon etwas älter.«
»Hier, mein Kleiner, bitte schön«, sagte Revel, stand vom Kindertisch auf und hielt Wilfrid im Licht der Nachtlampe die Zeichnung hin. Der Junge begutachtete sie mit einem vorbehaltlichen Lächeln, gegen den Schlaf ankämpfend. »Ich lege sie hierhin, ja?«
»Hm«, sagte Wilfrid. Daphne konnte sie nicht richtig sehen, erkannte nur den großen Schnabel eines Vogels.
»Kapitel acht«, sagte Corinna. Ob sie jetzt dachte, dass sie eigentlich auch eine Zeichnung bekommen müsste? Vielleicht konnte man Revel morgen darum bitten, wenn es ihm nichts ausmachte – vielleicht ließ er sich sogar zu einem Porträt überreden.
»Und so bestieg Lord Pettifer seine Kutsche«, las Daphne etwas verhalten bei dem schwachen Licht, »die ganz aus Gold war … mit zwei hübschen Lakaien in scharlachroter Livree mit Goldlitze und einem Kutscher mit Dreispritz – Dreispitz – und dem groben – ›Entschuldigung‹ – dem großen Wappen der Pettifers von Morden, das auf den Türen aufgemalt war. Ganz sanft und leise hatte es angefangen zu schneien, und die zarten weißen Flocken gießen – ließen – sich kurz auf den Mähnen der vier Rappen und den goldenen Federbüschen an den Hüten der Lakaien nieder – ›ach, Gottchen ja, an die erinnere ich mich‹.« Sie sah über den Buchrand Revel an, der vor dem schwachen Licht wie eine dunkle Säule erschien, vielleicht machte ihr kleiner Auftritt ihn ungeduldig. Er war eben doch ein Mann des Theaters; und das Vorlesen verriet, wie viel sie getrunken hatte. »Vor Sonnenuntergang am Sonntag werde ich zurück sein!«, sagte Lord Pettifer. »Und bitte, mein Truchsess, sagt Miranda, sie möge sich bereithalten.« Sie war sich unschlüssig, wie viel Gefühlsausdruck sie in die Dialoge legen sollte, doch im selben Moment kamen Schnarchgeräusche von Corinnas Bett, und Daphne sah, dass ihr Mund weit offen stand und sie bereits wieder schlief. Hoffnungsvoll schaute sie zu Wilfrid, der sie groß anblickte, obwohl er unmöglich verstanden haben konnte, worum es ging. »Na gut«, sagte sie, »ich lese noch ein bisschen weiter, ja?« Sie las mit gesenkter Stimme, übersprang einige Absätze, bis zur wunderbaren Schilderung von Lord Pettifers Reise durch den Schnee nach Dover, die sie seit ihrer Mädchenzeit nicht mehr gelesen hatte. Seltsam: Einerseits wollte sie nicht unter diesen Umständen vorlesen, abgelenkt durch Revel, durch den Text stolpernd, andererseits bliebe ein unbehagliches Gefühl, wenn sie jetzt aufhörte. »In der Ferne sahen sie die Lichter eines einsamen Hauses – dass sie niemals zurückkehren konnte«, las Daphne, nachdem sie zwei Seiten überblättert hatte und einen Augenblick brauchte, bevor sie es merkte. Kurz sah sie zu Wilfrid und las dann weiter, doch jetzt hatte auch sie den Faden verloren. Er lächelte entrückt, als wollte er sagen, dass jetzt alles einen Sinn ergäbe, und sich freundlich bei ihr bedanken; er kehrte dem Licht den Rücken zu und zog die Knie unter der Bettdecke an, was sie als Hinweis verstand, dass sie jetzt aufhören durfte.
Draußen auf dem Flur erschien ihr plötzlich alles dringlicher und angespannter. Sie dachte, es könnte doch noch schiefgehen; wenn sie nicht sofort handelten, würde alles in einer furchtba ren Verlegenheit enden, weil sie es aus lauter Unentschlossenheit zu lange hinauszögerten. Dann legte Revel sanft einen Arm um sie. »Nein«, flüsterte sie, »das Kindermädchen …!«
»Oh …«
»Gehen wir nach unten.«
»Wirklich?«, sagte Revel. »Wie du willst.« Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, sie
Weitere Kostenlose Bücher