Fremden Kind
Männer sich küssten, so ihre Vermutung, ging es ziemlich rau zu, ein Gedanke, den sie lieber nicht weiterverfolgen wollte. Sie wusste, dass sie Revel ermuntern musste, ohne ihm das Gefühl zu geben, in irgendeiner Weise unzulänglich zu sein oder Ermunterung nötig zu haben. Er war jünger als sie, aber er war ein Mann. Auf eine romantische Art wünschte sie, auch sie wäre ein Mann, um ihm auch zu gefallen. »Wir können alles machen, was du willst«, sagte sie, und als er daraufhin lachte, fragte sie sich, worauf sie sich hier gerade einließ.
9
F ür zwanzig Minuten gehörte die Welt den Vögeln. Scharenweise im Wald, weiter draußen auf dem Hochplateau, in den Gärten, auf Bänken, in Büschen und hier oben, zwischen Dächern und Schornsteinen, trällerten Finken und Drosseln, Stare und Amseln alle auf einmal ihr Lied an den aufziehenden Tag. Wilfrid schlug die Augen auf und sah in dem gräulichen Licht seine Schwester in ihrem Bett sitzen und in ihr Buch schauen. Mit einer behutsamen Drehung des Kopfes und ein wenig Konzentration fand er heraus, dass es halb sieben war. Auf dem Nachttisch stand etwas Seltsames, das mit seinem geheimnisvollen Funkeln minutenlang seine Aufmerksamkeit fesselte, aber darüber wollte er jetzt nicht nachdenken. Es ergab für ihn keinen Sinn, so wie ein Fenster an einer Stelle, wo unmöglich ein Fenster sein konnte. Er ließ die Augen zufallen. Der Gesang der Vögel war so laut, dass er einen, sobald man davon wach geworden war, wieder zurück in den Schlaf trieb. Wachte man dann zum zweiten Mal auf, war es heller Tag, und die Vögel waren weiter weg und nicht mehr so wichtig. Man vergaß sie ganz einfach. Wilfrid sah, dass die Tür halb offen stand: Corinna war schon aufgestanden, um sich zu waschen, aber er musste sie unbedingt ein paar Sachen fragen, was die Nacht anging, nach dem Lärm und der Musik und nach dem Kommen und Gehen, das damit verwoben war, wie in einem Traum. Er drehte sich auf die andere Seite, und drüben auf dem Kaminsims, an den Toby-Krug gelehnt, stand Onkel Revels Flamingo auf einem Bein und lachte ihn verschmitzt an. Ein Bruchstück aus dem Traum hatte sich in die stabile Welt hinübergerettet, als Beweis oder Versprechen, und Wilfrid stieg aus dem Bett und nahm es an sich. Onkel Revel war hier gewesen, zusammen mit seiner Mutter, sie hatten gelacht und gescherzt, und er hatte eine Zeichnung angefertigt, sehr schnell, wie ein Zaubertrick. Wilfrid nahm sie mit ins Bett – aber ja, das seltsame Objekt auf seinem Nachttisch, das ihn mit seinem magischen Funkeln in die Irre geführt hatte, war das Weinglas seiner Mutter, mit einem Rest von dem dunklen Rotwein und schwarzen Krümeln darin. Er schaute in das Glas, und der saure Geruch, der ihm entströmte, war seltsamerweise derselbe, nach dem die Küsse seiner Mutter in letzter Zeit rochen. Er hörte Nanny in ihrem Schlafzimmer nebenan, das sorgenvolle Ächzen der Dielenbretter, das Rasseln der Vorhangringe. Sie sprach mit jemandem, es hörte sich an wie das Dienstmädchen Sarah. Jetzt traten sie hinaus auf den Flur. »War mal wieder eine von ihren rauschenden Nächten«, sagte Nanny. »Bin gespannt, wie es ihnen heute Morgen geht.« Sarah stöhnte und lachte. »Duffel war zu nächtlicher Stunde mit ihrem jungen Künstlerfreund hier oben, um den lieben Kleinen beim Schlafen zuzugucken«, sagte sie. »Wie sollen die Kinder dabei ruhig durchschlafen? Das regt sie nur auf. Nach so einer Nacht sind sie die reinsten Biester.«
»Ah …!«, sagte Sarah, die heute irgendwie netter klang als sonst. Wilfrid konnte es nicht leiden, wenn Nanny so über seine Mutter sprach.
»Ich habe heute meinen freien Tag, Schätzchen, ich muss mich nicht mit ihnen herumplagen.«
»Robbie hat gesagt, sie hätten Verstecken gespielt.«
»Verstecken? Wohl eher Doktorspielchen …«, sagte Nanny. Die beiden Frauen gackerten und gingen dann offenbar den Korridor entlang. »Du hast bestimmt auch die Musik gehört …«, sagte Nanny, als die Tür auf dem oberen Treppenabsatz krachend ins Schloss fiel. Alle haben die Musik gehört, dachte Wilfrid. Seine Mutter hatte mit Onkel Revel in der Halle getanzt, die Szene stand ihm noch lebhaft vor Augen. Jetzt wollte er schlafen, doch in seinem Herzen und in seinem Geist regte sich diffuser Widerstand gegen die Beleidigung und die Respektlosigkeit gegenüber seiner Mutter, aber auch gegen die unruhige Nacht, die sie ihm beschert hatte. Er war erschöpft von seinen Träumen.
Dann auf einmal
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