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Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Hollinghurst
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schon vor fünfzig Jahren erschienen waren und vieles enthielten, das er schätzte und auswendig konnte, unter anderem Drinkwaters »Äpfel im Mondschein« und Valances »Träumende Soldaten«. Im Zimmer stand noch ein mit kratzbürstigem Mokett bezogener Lehnstuhl und vorm Fenster eine Frisierkommode mit einem dreiteiligen Spiegel, davor ein Stuhl; hier saß Paul Abend für Abend und schrieb. Beim Aufblicken sah er sich jedes Mal im Spiegel, die Bryant-Nase als triumphales Triumvirat und die beiden Profile, die Versteck miteinander spielten. Tagebuch führte er, seit er von der Schule abgegangen war, ein Geheimbericht, und je mehr der schwarzen Quart-Notizhefte sich ansammelten, desto schwieriger wurde es, sie zu verstecken. Zu Hause stand unter seinem Bett ein Karton, in dem eine Schicht alter Schulbücher, Unterrichtsmaterialien und vergilbter Zeitungen eine zweite Schicht eher privater Dinge verdeckte: fragile Erinnerungsstücke von Mitschülern, drei Ausgaben von Magnifique! , mit Fotos von Kraftsportlern in Strings, manche eindeutig nachträglich aufretuschiert, und natürlich die Tagebücher, in denen Paul sich gehen ließ und sich Freiheiten herausnahm, wie sie in den Heftchen nicht erlaubt waren.
    Jetzt beugte er sich vor, verdeckte das Blatt wie ein Schul junge seine Hausaufgaben und schrieb: »29. Juni 1967: Warm, den ganzen Tag Sonne.« Er drückte den Kugelschreiber fest auf, sodass das Papier sich zu den Rändern hin auszudehnen schien und aufwölbte. Zugeklappt, konnte man genau erkennen, wie viel von dem Buch bereits aufgebraucht war. Die beschriebenen Seiten, ihre Kanten geknickt und nachgedunkelt, waren erfreuliche Zeichen für Fleiß, die übrigen, ein sauberer, strammer fester Block, eine angenehme Herausforderung. Diese Woche bot reichlich Material, er hatte die Mädchen auf der Arbeit beschrieben, und Geoff Viner hatte eine deutlich freimütigere Würdigung erfahren, als es in der Bank möglich gewesen wäre. Jetzt musste er seine Unterredung mit Geoff auf der Toilette nachtragen, und das unerwartete Abenteuer im Haus »Carraveen«. »Mrs J. war früher mit Dudley Valance verheiratet, Cecils Bruder, hatte aber vor dem Ersten Weltkrieg auch ein Verhältnis mit Cecil V., er sei ihre erste große Liebe gewesen, äußerst attraktiv, aber nicht sehr geschickt mit Frauen. Was sie damit meinte, fragte ich sie. Und sie: ›Wissen Sie, er verstand Frauen nicht, aber er wirkte absolut unwiderstehlich auf sie. Sie müssen bedenken, er war erst 25, als er getötet wurde.‹« Am Fuß der Seite, wo beim Schreiben der Handballen aufgelegen hatte, widerstand das fettige Papier der Tinte, und manche Worte musste er überschreiben, »absolut unwiderstehlich« und »erst 25« – es wirkte anmaßend und krakelig, wie die Schrift eines Betrunkenen oder leicht Verrückten.

2
    P eter Rowe trat aus seinem Zimmer im obersten Stockwerk, querte den Flur und schaute über das Geländer in das große rechteckige Treppenhaus. Weiter unten hörte er jemanden die Treppe hinunterstürzen und sah kurz darauf für einen Moment den ausgestreckten Arm eines kleinen Jungen in seine Jacke fahren. »Nicht rennen!«, rief Peter und erzielte eine sprichwörtlich umwerfende Wirkung, denn der Junge blickte erschrocken nach oben, verlor den Halt und holperte – plumps, plumps, plumps – die harten Eichenstufen hinunter in die Halle. »Jetzt weißt du, warum«, sagte Peter, etwas leiser als vorhin, und ging zurück in sein Zimmer.
    Die erste Unterrichtsstunde hatte er frei, danach Singen in der fünften Klasse. Er füllte den Wasserkessel am Waschbecken und spülte oberflächlich eine Tasse für den Nescafé aus; die Flocken auf dem feuchten Tassenboden fingen an zu schmelzen und zu zischen. Dann zündete er sich die erste Zigarette des Tages an, blinzelte in den Rauch, zog das Bett einigermaßen glatt und breitete über die verbliebenen Uneben heiten eine Wolldecke aus. Später würde die Hausmutter mit gesenktem Kopf, schwer atmend, den Flur entlang von Schlafsaal zu Schlafsaal streichen. Vor jedem regelwidrig gemachten Bett – ob lose Lakenzipfel oder nicht vollkommen straff gespannte Tagesdecke – würde sie sich bücken und das Bettzeug wie ein Stier in die Höhe werfen, alles gründlich zerwühlen und dann den Namen des betreffenden Jungen auf eine Karte schreiben. Anschließend würde die Karte an das Schwarze Brett neben dem Lehrerzimmer geheftet, und in der Pause hätte der Delinquent nach oben zu hecheln und das ganze Bett

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