Fremden Kind
der alten Daphne Jacobs einen ziemlichen Erfolg gelandet. Sie war dankbar, einen neuen Zuhörer gefunden zu haben, und er hatte gelacht oder mitleidig zerknirscht getan bei ihren Geschichten, ohne sie immer in Gänze nachvollziehen zu können. Wie er schon öfter festgestellt hatte, blieb meist wenig hängen, wenn er sich wirklich mal ganz auf das konzentrierte, was gerade jemand von sich gab. Der Rausch kam unter anderem daher, dass er sich in einem Haus aufhielt, dessen Bewohner mit Schriftstellern bekannt waren, in diesem Fall sogar recht berühmten Schriftstellern. Dudley Valance war ihm kaum ein Begriff, von Cecil Valance dagegen konnte er der alten Dame ganze Verse zitieren; erst lächelte sie nachsichtig, dann wurde sie auf einmal leicht unduldsam. Irgendwie umgab sie ein matter, unheimlicher Glanz, denn einst war sie seine Geliebte gewesen – »Two Acres« war ausdrücklich für sie geschrieben worden, wie sich herausstellte. Bei einem zweiten Glas »Gin mit«, was immer dies »mit« war, erzählte sie Paul recht freimütig darüber, und Jenny hatte gesagt: »Ich finde Onkel Cecils Gedichte schrecklich imperialistisch, Granny.« Sie tat so, als hätte sie das nicht gehört. In der Vale Street sah er sich die Auslagen im International Stores an, das Geschäft war geschlossen und alles lag im Dunkeln. Ein entsetzlich trauriger Gedanke packte ihn – er war frei, beschwingt und beschwipst, er war dreiundzwanzig Jahre alt; bis zum nächsten Sonnenaufgang dauerte es noch eine Ewigkeit, und er hatte niemanden, mit dem er sie teilen konnte.
Der Weg zu seiner Bude führte ihn ein Stück aus der Stadt hinaus, vorbei an dem überwucherten Gelände des alten Güterbahnhofs und der neuen Hauptschule, streng und transparent im Abendlicht. Er bog in die Marlborough Gardens ein, die eine Schleife bildeten, eine Schlinge eigentlich, mit einer Ausfahrt zur Hauptstraße. Vom Bürgersteig aus sah er Menschen in der Küche beim Essen oder nach dem Essen im Garten, beim Rasenmähen und Gießen. Die Häuser waren in einem merkwürdigen Muster angeordnet, für das es kein Wort gab, in Dreiereinheiten, je zwei ineinandergeschobene Doppelhaushälften, mit dem mittleren Haus für beide Parteien, wie Segmente einer Reihenhaussiedlung. Mrs Marsh besaß wenigstens ein Reihenendhaus, mit Ausblick auf ein Gerstenfeld dahinter. Ihr Mann war Busfahrer mit unregelmäßiger Arbeitszeit, manchmal brachte er eine Reisegruppe nach London, manchmal hatte er eine Tour nach Bournemouth oder auf die Isle of Wight und blieb über Nacht. Jetzt stand sie im Wohnzimmer, hatte die Gardinen gegen das Sonnenlicht vorgezogen, und das Fernsehgerät plärrte, die Serie Z-Cars war gerade angelaufen. Mrs Marsh hatte eine angenehme Art, ihren Mieter nicht zu behelligen – sie drehte ihm den Kopf zu und nickte. In der Küche, unter einem Geschirrtuch, stand ein Schinkensalat für ihn, und auf dem Tisch lag ein nachgesandter Brief mit einem Zettel, »Der ist für Sie gekommen, Mrs Marsh«. Paul lief nach oben, nahm zwei Stufen auf einmal und ging ins Badezimmer, wo er sich immer besonders fremd fühlte, zwischen der Rasierseife und den Waschlappen des Ehepaars und Mrs Marshs anderen Sachen im Badezimmerschrank. In die Badezimmertür war eine Milchglasscheibe eingelassen, um nachts erkennen zu können, ob besetzt war oder nicht, wodurch jeder Toilettenbesuch scheinbar öffentlich wurde – sichtbar, hörbar und beinahe ungehörig. Die Paul zugewiesenen Badezimmerabende waren dienstags und donnerstags, also heute! Samstags hatte die Bank bis ein Uhr mittags geöffnet, danach würde er den Bus nach Wantage nehmen, und seine erste Arbeitswoche hier wäre vorüber.
Nach dem Abendessen ging er wieder nach oben und holte sein Tagebuch vom Kleiderschrank. Er hatte noch kaum Spuren in seinem Zimmer hinterlassen – Pantoffeln, Bademantel, ein paar Bücher, die er in die Reisetasche gepackt hatte. Den neuen Roman von Angus Wilson hatte er sich aus der Stadtbücherei geliehen, und er las ihn auf seine Weise, indem sein rastloser Blick vorauseilte und nach Auftritten von Marcus suchte, dem schwulen Sohn, dessen Eskapaden er auf Hinweise oder Ratschläge hin abklopfte. Er wollte das Buch nicht zu Hause lesen und damit Fragen seiner Mutter riskieren. Außerdem hatte er noch die neueste Ausgabe der Penguin-Serie »Modern Poets« mitgebracht, The Mersey Sound , bei deren Texte es sich in seinen Augen jedoch überhaupt nicht um Gedichte handelte, und die Poems of Today , die
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