Fremden Kind
noch einmal zu machen, ordentlich, faltenlos und straff, wie eine Zwangsjacke. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen war Peter froh, von diesem drakonischen Regime ausgeschlossen zu sein.
Er machte sich an den wöchentlichen Brief an seine Eltern, eine Gepflogenheit, die er ebenso streng beibehielt wie die Jungen. »Liebste Mum, liebster Dad«, schrieb er. »Es war eine herrliche Woche. Ich freue mich auf Sonntag, da ist die Vorschlussrunde für den Gartenwettbewerb. Unser Schuldirektor spielt den Schiedsrichter, und weil er absolut nichts von der Gärtnerei versteht, ist schwer vorherzusagen, worauf er achten wird: Farbe oder Gestaltung. Dupont, der Junge, von dem ich Euch bereits schrieb, hat einen Steingarten mit Wasserfall gebaut, doch der Rektor mit seinem sehr schlichten Geschmack könnte das als ›verschnörkelt‹ abtun. Sonst läuft alles gut für den Tag der offenen Tür. Colonel Sprague hilft uns tatkräftig bei der Organisation. Er ist ein typischer Vertreter seiner Gattung und eigentlich ein Ungeheuer. Ich nenne ihn immer den Colonel Infoferno.« Peter rauchte und trank einen Schluck Kaffee. Mit der neuesten Obsession des Schuldirektors, die Verbreitung angeblich »sexuell stimulierender« Bücher in den höheren Klassen zu unterbinden, konnte er seine Eltern wohl kaum erfreuen. Für die Lehrerkonferenz kommende Woche stand dieser Punkt auf der Tagesordnung. In diesem Schuljahr hatte der Direktor bereits Peyton Place und Die Unersättlichen konfisziert, beide aufgrund von Gerüchten, nicht nach eigener Kenntnis des Inhalts; genau aus diesem Grund verschlangen die Jungen sie ja. Dr. No, das ebenfalls als »freizügiger« angesehen wurde, hatte man in Walters Brotschachtel gefunden und zur Beurteilung an Peter weitergereicht. Gestern Abend hatte er es während einer Sitzung gelesen und ganze drei unerwartet anstößige Sätze darin entdeckt. Die viel spannendere Verfilmung hatte er ebenfalls gesehen, in Romanform wirkte die Geschichte eher seicht und bemüht, wurde vom Bösewicht in einem einzigen endlosen Monolog erzählt. In den Schilderungen von James Bonds Körper und den Qualen, die er erleiden musste, machte er einen etwas verklemmten Sadismus aus, doch wie im Film waren auch hier alle Wunden in der übernächsten Szene verheilt. Die Jungen ließen sich in den ersten Wirrnissen der Pubertät natürlich durch alles Mögliche »stimulieren«. Ihm selbst war es nicht anders ergangen; die »Säuberung«, die augenblicklich im Gange war, erschien ihm daher grundsätzlich als ziemlich nutzlos. Er drückte die Zigarette aus und schrieb seinen Eltern stattdessen lieber von dem Spiel der Startelf gegen Beasleys.
Mit dem üblichen leichten Überdruss und der Entschlossenheit, die ein Leben nach Stundenplan mit sich brachten, öffnete Peter um 9 Uhr 35 ein zweites Mal die Tür und trat auf den Flur. Eine Drehung des Kopfes, und er sah sein Zimmer so, wie ein Fremder es vielleicht sehen würde, als ein gemütliches Durcheinander. Er schritt eine Windung der Haupttreppe hinunter in den ersten Stock und weiter den breiten Korridor entlang. Die Klassenzimmer auf Corley Court nahmen sechs Räume im Erdgeschoss ein, nur der Raum mit dem Klavier sowie die Krankenstuben lagen isoliert am Ende des weitläufigen Korridors im Stockwerk darüber. Jungen mit Fieber oder ansteckenden Krankheiten wurden durch die Wand hindurch mit Volksliedern oder mörderischen Tonleiterübungen traktiert. Er kam am Wohnzimmer des Direktors vorbei, das früher mal das elterliche Schlafgemach gewesen sein musste; von seinem hohen gotischen Erker aus überblickte man die Hauptachse des französischen Gartens, der nur auf Fotos überlebt hatte, früher aber mal eine blendende Blütenpracht gewesen sein musste. Ein Fischteich in der Mitte des Rasens war als einziges melancholisches Relikt übrig geblieben.
Peter hatte die Stelle auf Corley Mitte des Jahres angetreten, nach dem geheimnisumwitterten Abgang eines Mannes namens Holdsworth, und sich gleich in das Haus verguckt, zum Teil aus einem ganz natürlichen Mitgefühl für etwas so Geschundenes wie dieses »viktorianische Ungetüm«, so die gängige, anmaßende Bezeichnung. Einen Jungen in der ersten Klasse hatte er von Corley Court als einem »viktorianischen Ungetüm, und zwar einem der schlimmsten seiner Sorte« mit demselben humorlosen Lachen reden hören, mit dem wahrscheinlich schon sein Vater über das Haus hergezogen war. Als Internat dagegen eignete es sich hervorragend –
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